Dr. Xaver Ditz, Prof. Dr. Dr. h.c. Franz Wassermeyer
Rz. 45
Niederlassungsfreiheit. Nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH fällt der Bereich der direkten Steuern in den Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten. Diese sind jedoch angehalten, ihre Besteuerungsbefugnisse unter Wahrung der Vorgaben des Unionsrechts auszuüben. Daraus erwächst ein Gebot an die Mitgliedstaaten, die Grundfreiheiten auch in Bezug auf steuerrechtliche Vorschriften nicht beschränken zu dürfen. Die Grundfreiheiten sichern in diesem Sinne das Konzept von einem einheitlichen Binnenmarkt, indem sie den Mitgliedstaaten den Erlass solcher diskriminierenden oder beschränkenden Maßnahmen verwehren, die Marktteilnehmer an einer grenzüberschreitenden Wertschöpfung hindern. Im Hinblick darauf, dass sich die steuerlichen Vorgaben zur Verrechnungspreisbestimmung auf Sachverhalte zwischen verbundenen Unternehmen konzentrieren, liegt es auf der Hand, dass für die Frage von deren Vereinbarkeit mit unionsrechtlichen Vorgaben der Niederlassungsfreiheit gem. Art. 49 AEUV eine besondere Rolle zuwächst. Denn hinter ihr verbirgt sich das Recht natürlicher und juristischer Personen, sich im Hoheitsgebiet jedes Mitgliedstaats niederzulassen (sog. primäre Niederlassungsfreiheit) und durch die Gründung von Zweigniederlassungen oder Tochtergesellschaften in einem anderen Mitgliedstaat tätig zu werden (sog. sekundäre Niederlassungsfreiheit). Sie schützt in diesem Zusammenhang aber nicht nur die freie Niederlassung im Aufnahmemitgliedstaat, sondern verbietet außerdem dem Herkunftsmitgliedstaat, eine solche mit steuerlichen Hindernissen zu versehen.
Rz. 45.1
Kapitalverkehrsfreiheit. Von Relevanz ist daneben im Grundsatz die Freiheit des Kapitalverkehres gem. Art. 63 AEUV, die – anders als die übrigen EU-Grundfreiheiten – auch vor Beschränkungen im Verhältnis zu Nicht-EU-/EWR-Staaten (sog. Drittstaaten) schützt (sog. erga omnes-Wirkung). Allerdings hat der EuGH entschieden, dass die Kapitalverkehrsfreiheit hinter eine andere Grundfreiheit zurücktritt, wenn sich erweist, dass die konkrete nationale Vorschrift primär die Beschränkung einer anderen Grundfreiheit zum Gegenstand hat. Im Schrifttum wurde demgegenüber – u.a. auch von Vertretern der Finanzverwaltung – teilweise geltend gemacht, dass es nicht auf den Gegenstand der beschränkenden Vorschrift ankomme, sondern auf den konkreten Sachverhalt. Läge im konkreten Sachverhalt z.B. aufgrund einer beherrschenden Beteiligung eine Niederlassungssituation vor, dann würde die Kapitalverkehrsfreiheit und damit der Drittstaatenschutz stets und ungeachtet des Regelungsgegenstandes hinter die Niederlassungsfreiheit zurücktreten.
Rz. 45.2
Auflösung einer Konkurrenz von Grundfreiheiten. Spätestens seit der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Test Claimants in the FII Group Litigation ist diese Rechtsauffassung überholt. Der EuGH hat unzweideutig festgestellt, dass es nur auf den Gegenstand der konkreten Vorschrift ankommt. Umstritten war lediglich die Frage, ab welcher Beteiligungsquote der vom EuGH geforderte "sichere Einfluss" auf die Entscheidungen der Beteiligungsgesellschaft gegeben ist. Der BFH wollte diese Grenze in der Vergangenheit bei 10 % ziehen. Der EuGH hat diese Auffassung in einer zeitlich späteren Entscheidung verworfen und zutreffend erkannt, dass bei einer Beteiligung von 10 % nicht von einem „ sicheren Einfluss ”auszugehen ist. Es dürften deshalb der aus der Rs. Lasertec bekannte Maßstab gelten, wonach ein solch sicherer Einfluss jedenfalls bei einer Mindestbeteiligung von 25 % angenommen werden muss.
Rz. 45.3
Zusammenhang mit § 1. Geht es um Verrechnungspreiskorrekturen nach § 1, spricht das Mindestbeteiligungserfordernis des § 1 Abs. 2 Nr. 1 von 25 % dafür, § 1 dem Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit mit der Folge zuzuordnen, dass ein Drittstaatenschutz entfällt. Aufgrund von § 1 Abs. 2 Nr. 4, der ein Nahestehen auch jenseits einer sich qua Beteiligung ergebenden Beherrschungsmöglichkeit anordnet, wird man dies aber im Einzelfall auch anders sehen können.