Dr. Xaver Ditz, Prof. Dr. Dr. h.c. Franz Wassermeyer
Rz. 50
Tatbestandsmerkmale des Art. 107 Abs. 1 AEUV. Damit eine bestimmte steuerliche Maßnahme als verbotene Beihilfe zu werten ist, müssen die nachstehenden Voraussetzungen erfüllt sein:
- Bei der zu untersuchenden Maßnahme muss es sich um eine staatliche Maßnahme oder um eine Maßnahme unter Inanspruchnahme staatlicher Mittel handeln;
- die betreffende Maßnahme muss den Begünstigten einen wirtschaftlichen Vorteil verschaffen;
- sie darf nur bestimmten Unternehmen oder Produktionszweigen zugutekommen (Selektivität);
- sie muss zu einer (zumindest drohenden) Wettbewerbsverzerrung führen;
- sie muss geeignet sein, den zwischenstaatlichen Handel zu beeinträchtigen.
Rz. 50.1
Herausgehobene Stellung des Selektivitätskriteriums. Bei steuerlichen Maßnahmen sind vier der o.g. fünf Voraussetzungen meist erfüllt; entscheidend ist insoweit meist das Selektivitätskriterium, das in seiner praktischen Anwendung äußerst schwer zu handhaben ist. Die Unionsgerichte prüfen die Selektivität steuerlicher Regelungen stets anhand eines dreigliedrigen Schemas:
- Im ersten Schritt ist die in dem jeweiligen Mitgliedstaat geltende allgemeine oder "normale" Steuerregelung zu ermitteln (sog. Bezugssystem).
- Im zweiten Schritt gilt es dann festzustellen, dass die betreffende steuerliche Maßnahme insoweit von diesem Bezugssystem abweicht, als sie zwischen Unternehmen unterscheidet, die sich im Hinblick auf das Ziel des Bezugssystems in einer vergleichbaren rechtlichen und tatsächlichen Situation befinden (sog. Vergleichsprüfung). Kann eine solche Abweichung festgestellt werden, so ist die Maßnahme prima facie selektiv.
- Eine Maßnahme, deren prima-facie-Selektivität festgestellt wurde, ist aber dennoch nicht selektiv, wenn der betreffende Mitgliedstaat im dritten Schritt nachweist, dass die mit der Maßnahme einhergehende Unterscheidung gerechtfertigt ist, weil sie sich aus der Natur oder dem inneren Aufbau des Systems ergibt, in das sich die Maßnahme einfügt (sog. Rechtfertigungsprüfung).
Diese Drei-Schritt-Prüfung ist oftmals sehr anspruchsvoll, was mitunter daran liegt, dass beihilfeverdächtige Maßnahmen stets nach ihrer Wirkung zu beurteilen sind, sodass es für die Feststellung einer Abweichung insbesondere nicht auf die vom Gesetzgeber verfolgten Ziele oder die vom Gesetzgeber gewählte Regelungstechnik ankommt; ob eine beihilfeverdächtige Maßnahme als Regel oder Ausnahme formuliert ist, ist somit unerheblich. Ebenso ist nicht relevant, ob durch eine beihilfeverdächtige Maßnahme mehrere oder gar viele Unternehmen in den Genuss einer Begünstigung kommen; solange nicht alle Unternehmen von dieser Maßnahme profitieren können, kann auch eine solche Regelung selektiv sein. Im Ergebnis impliziert die Anwendung dieses Prüfungsschemas zahlreiche Unwägbarkeiten, weshalb sich oftmals nicht rechtssicher beurteilen lässt, ob es sich bei einer steuerlichen Maßnahme um eine Beihilfe handelt oder nicht.
Rz. 50.2
Selektivitätskriterium bei Einzelbeihilfen. Die Selektivität erfordert (grob gesprochen) die Feststellung, dass die fragliche Maßnahme eine Ungleichbehandlung von Unternehmen bewirkt, indem sie lediglich bestimmte, nicht aber alle Unternehmen in diesem Mitgliedstaat begünstigt. Um diese Ungleichbehandlung festzustellen, wenden die Kommission und die Unionsgerichte im Fall von Beihilferegelungen stets das erwähnte dreistufige Prüfungsschema an. Im Fall von Einzelbeihilfen, wie z.B. Tax Rulings, lässt sich diese Ungleichbehandlung jedoch vergleichsweise einfach feststellen; hier indiziert bereits die Gewährung eines wirtschaftlichen Vorteils an einzelne oder einige wenige ausgewählte Unternehmen die Selektivität der Maßnahme. Bei der Überprüfung von Tax Rulings kommt es also im Wesentlichen darauf an, ob dem betreffenden Unternehmen durch das Tax Ruling ein wirtschaftlicher Vorteil zukam, den es ohne das Tax Ruling, also bei normaler Anwendung des nationalen Steuerrechts, nicht erhalten hätte. Auch in diesem Fall bleibt aber festzustellen, was die normale Besteuerung ausmacht und unter welchen Umständen die in Rede stehende steuerliche Maßnahme derart von dieser Normalbesteuerung abweicht, dass das betreffende Unternehmen daraus einen wirtschaftlichen Vorteil i.S. einer reduzierten Steuerlast erlangt.
Rz. 50.3
Verfahrensrechtliche Vorgaben und Rechtsfolgen bei einem Verstoß gegen das Beihilfeverbot. Die EU-Mitgliedstaaten müssen jede Einführung und Umgestaltung von Beihilfen bei der Kommission anmelden (sog. Notifizierungspflicht); sie dürfen ihr Beihilfevorhaben nicht durchführen dürfen, ehe dieses von der Kommission genehmigt wurde (sog. Durchführungsverbot; Art. 108 Abs. 3 AEUV). Gerade bei abstrakt-generellen Steuervergünstigungen, aber auch bei konkret-individuellen Abreden in Form von Tax Rulings, kommt es nicht selten vor, dass ihr Beihilfecharakter verkannt wird oder dass bestehende Zweifel nicht zum Anlass genommen werden, die Maßnahme anzumelden, sodass die M...