Dr. Xaver Ditz, Prof. Dr. Dr. h.c. Franz Wassermeyer
(1) Fremdvergleichsgrundsatz als Gegenstand der Beihilfenkontrolle
Rz. 51
Beihilferechtliche Prüfung von Steuervorbescheiden über Verrechnungspreise. Seit 2012/2013 untersucht die Kommission systematisch sog. Tax Rulings im Hinblick auf ihre Beihilfenkonformität. Im Kern geht es dabei um die Frage, ob die betreffenden Mitgliedstaaten im Rahmen von Steuervorbescheiden Verrechnungspreise akzeptiert haben, die nicht dem Fremdvergleichsgrundsatz entsprechen, womit sie den betreffenden Unternehmen Vorteile gewährt haben, die andere Unternehmen so nicht in Anspruch nehmen konnten. Das ist auch insoweit neu, als der Fremdvergleichsgrundsatz im Unionsrecht bislang doch eine andere Rolle gespielt hat. Denn bisher haben sich eher die Mitgliedstaaten auf den Fremdvergleichsgrundsatz berufen, um eine künstliche Verringerung der Bemessungsgrundlage zu verhindern. Nun wird der Fremdvergleichsgrundsatz indes nicht von den Mitgliedstaaten, sondern von der Kommission bemüht, um Praktiken der Mitgliedstaaten zu begegnen, mit denen diese eine ungerechtfertigte Minderung der Bemessungsgrundlage bei den jeweiligen Unternehmen zulassen. Dabei hat das kommissionsseitige Vorgehen gegen Steuervorbescheide von Beginn an – auch über die interessierte Fachöffentlichkeit hinaus – große Aufmerksamkeit erhalten, da mit McDonald's, Fiat, Apple, IKEA, Starbucks, Amazon, Nike usw. nicht nur weltweit bekannte Unternehmen ins Fadenkreuz des EU-Beihilferechts geraten sind, sondern gerade auch im Fall "Apple" bislang unerreichte Rückforderungssummen in Rede stehen (ca. 13 Mrd. EUR zzgl. Zinsen). Zudem sind die genannten Fälle nicht nur aus (steuer-)rechtlicher Sicht, sondern auch wegen ihrer wirtschaftlichen Bedeutung brisant, da ein Unternehmen wie Apple (für Irland) oder auch ein Unternehmen wie Amazon (für Luxemburg) für diese Mitgliedstaaten auch in wirtschaftlicher Hinsicht besonders relevant ist. Solche Unternehmen möchte kein Mitgliedstaat vertreiben, weshalb es nachvollziehbar ist, dass sich sowohl die betroffenen Unternehmen als auch die jeweiligen Mitgliedstaaten gegen die Entscheidungen der Kommission zur Wehr gesetzt haben.
Rz. 51.1
Stand der gerichtlichen Auseinandersetzungen. Die Kommission hat seit 2012/2013 zahlreiche Tax Rulings auf ihre Beihilfekonformität hin untersucht, wobei die untersuchten Tax Rulings größtenteils nicht beanstandet wurden. In einigen Fällen kam es jedoch zum Erlass von Negativbeschlüssen, über deren Rechtmäßigkeit nun die Unionsgerichte zu befinden haben. Das EuG hat in erster Instanz lediglich in einem Fall die Sicht der Kommission bestätigt. In den anderen Fällen war das EuG der Auffassung, dass es der Kommission nicht gelungen sei, das Vorliegen eines Vorteils i.S.d. Art. 107 Abs. 1 AEUV nachzuweisen. In dem einen Fall, in dem das EuG die Sicht der Kommission bestätigte, entschied der EuGH mit Urteil v. 8.11.2022 inzwischen anders und hob die Entscheidung des EuG wieder auf. Die Grundsätze, die das EuG und der EuGH hinsichtlich der Beachtung des Fremdvergleichsgrundsatzes im EU-Beihilferecht herausgearbeitet haben, werden nachfolgend erläutert und eingeordnet.