Prof. Dr. Gerrit Frotscher
Rz. 1
Die Vorschrift enthält eine besondere Regelung darüber, wie stille Reserven zu erfassen und zu besteuern sind, wenn
- die unbeschränkte Körperschaftsteuerpflicht einer Körperschaft, Vermögensmasse oder Personenvereinigung durch Verlegung der Geschäftsleitung und/oder des Sitzes in das Ausland endet (Abs. 1),
- die inländische Betriebsstätte einer beschränkt steuerpflichtigen Körperschaft, Vermögensmasse oder Personenvereinigung im Inland aufgegeben, d. h. aufgelöst oder in das Ausland verlegt oder deren Vermögen als Ganzes auf einen anderen übertragen wird (Abs. 2); ausgenommen von der Besteuerung sind Übertragungen zum Buchwert, die in ihrer Struktur einer inländischen Verschmelzung entsprechen.
Rz. 2
§ 12 rechnet zu den „Allgemeinen Vorschriften” zur Einkommensermittlung. Die Regelung bildet zusammen mit § 11 und § 13 eine Gruppe von Bestimmungen, die der Abgrenzung der steuerlichen Erfassung von stillen Reserven dienen. Alle drei Vorschriften befassen sich mit Fällen, in denen Wirtschaftsgüter in die steuerliche Bindung eintreten oder aus ihr entlassen (entstrickt) werden. Die §§ 11—13 regeln, ob und in welchem Umfang steuerliche Konsequenzen eintreten, d. h. ob bei Eintritt in die steuerliche Bindung auch die vorher angesammelten stillen Reserven steuerlich verstrickt werden, oder ob bei Entstrickung eine Schlussbesteuerung der stillen Reserven erfolgt oder die Entstrickung keine steuerlichen Konsequenzen hat.
§ 12 ähnelt in seiner Struktur dem § 11, der Vorschrift über die Liquidationsbesteuerung. Bei der Liquidation endet die Steuerbarkeit durch Wegfall des Steuersubjekts und damit die Verstrickung der stillen Reserven. Das Problem des Ausscheidens der stillen Reserven aus der Steuerverstrickung ist in beiden Fällen vergleichbar. In beiden Fällen hat eine Schlussbesteuerung zu erfolgen. § 12 sieht daher keine eigenständige Regelung der Rechtsfolgen vor, sondern verweist für die Rechtsfolgen auf § 11.
Der Unterschied zwischen beiden Vorschriften besteht darin, dass das Körperschaftsteuersubjekt bei der Liquidation als steuerliche (und rechtliche bzw. wirtschaftliche) Einheit zerschlagen und „abgewickelt” und das Vermögen an die Anteilsinhaber ausgekehrt wird. Bei § 12 bleibt die steuerliche Einheit (das Steuersubjekt, die Betriebsstätte) bestehen, scheidet aber aus der Steuerpflicht aus; es erfolgt jedoch keine Übertragung von Vermögen auf die Anteilseigner. Der Anwendungsbereich beider Vorschriften, und damit die Abgrenzung ihrer Regelungsbereiche, richtet sich also danach, ob das Körperschaftsteuersubjekt aus der Steuerpflicht bzw. Steuerbarkeit unter Übertragung des Vermögens auf die Anteilseigner ausscheidet (dann ist § 11 anwendbar), oder ob die (unbeschränkte) Steuerpflicht ohne Übertragung des Vermögens auf die Anteilseigner endet (dann gilt § 12).
§ 12 ist eine Vorschrift zur körperschaftsteuerlichen Einkommensermittlung, die die Besteuerung der Anteilseigner nicht berücksichtigt. Bei der Auslegung des § 12 ist es daher ohne Bedeutung, ob und in welchem Umfang Steuerentstrickung bei den (ausländischen) Anteilseignern eintritt.
Rz. 3
§ 12 ist systematisch und inhaltlich wenig gelungen. Die Regelung erweckt den Eindruck, als ob bei ihrer Formulierung mehr die Furcht vor Steuerausfällen als eine tiefgehende Analyse ihrer Notwendigkeit und ihrer Wirkungen Pate gestanden hat. Auch das Verhältnis zu den zivilrechtlichen Grundlagen bleibt unklar. In seinen Wirkungen geht § 12 weit über den Rahmen einer sinnvollen Entstrickungsbesteuerung hinaus und bedarf daher der teleologischen Reduktion.