Rz. 172
Rechtsfolge des Ausscheidens aus der unbeschränkten Steuerpflicht eines EU- oder EWR-Staats nach Abs. 1 S. 1 oder bei Ausscheiden aus der Ansässigkeit eines EU- oder EWR-Staats aufgrund einer Verlegung von Geschäftsleitung und/oder Sitz in einen Drittstaat nach Abs. 3 S. 2 ist, dass die Körperschaft fiktiv als aufgelöst gilt und eine Liquidationsbesteuerung entsprechend § 11 KStG zu erfolgen hat. Der Verweis auf § 11 KStG ist eine Rechtsfolgenverweisung, sodass die Tatbestandsvoraussetzungen des § 11 KStG nicht erfüllt zu sein brauchen. Da § 11 Abs. 3 KStG nur das "zur Verteilung kommende Vermögen" behandelt, bei der Sitzverlegung aber kein Vermögen zur Verteilung kommt, bestimmt § 12 Abs. 3 S. 3 KStG, dass das vorhandene Vermögen der Bewertung zugrunde zu legen ist. Dieses Vermögen wird mit dem gemeinen Wert bewertet. Es werden also die stillen Reserven aufgelöst und besteuert. Abs. 3 gilt auch, wenn die Körperschaft nach dem Statut eines Staats gegründet worden ist, der die Gründungstheorie vertritt, und es daher beim Wegzug nicht zur Auflösung der Körperschaft kommt. Das bedeutet, dass bei einer nach ausl. Recht gegründeten Körperschaft, die in der Bundesrepublik aufgrund ihrer Geschäftsleitung unbeschränkt stpfl. sein kann, sonst nur beschränkt steuerpflichtig ist, die Besteuerung nach Abs. 3 hinsichtlich des in der Bundesrepublik verstrickten Steuersubstrats eingreift, selbst wenn der Sitzstaat den Wegzug nicht zum Anlass einer Liquidation und einer entsprechenden Besteuerung nimmt. Aus europarechtlicher Sicht ist dies unbedenklich, da es um den Wegzug in einen Drittstaat geht; dieser Vorgang wird von den Grundfreiheiten nicht geschützt.
Rz. 173
Die Besteuerung durch entsprechende Anwendung des § 11 KStG ist unabhängig davon, ob das deutsche Besteuerungsrecht durch den Wegzug gefährdet ist. Für eine einschränkende Interpretation, nach der die Rechtsfolgen des Abs. 3 nur eintreten sollen, soweit das deutsche Besteuerungsrecht durch den Wegzug eingeschränkt wird, enthält der Gesetzestext keinen Anhaltspunkt. Sollte die Liquidationsbesteuerung nach § 12 Abs. 3 KStG nur eintreten, wenn das deutsche Besteuerungsrecht durch die Sitzverlegung ausgeschlossen oder beschränkt wird, wäre die Vorschrift überflüssig, da dann eine Besteuerung schon nach Abs. 1 eintreten würde. Es ist aber nicht anzunehmen, dass der Gesetzgeber eine überflüssige Vorschrift geschaffen hat. Daher tritt die Liquidationsbesteuerung nach Abs. 3 über die in Abs. 1 geregelten Fälle hinaus auch dann ein, wenn das deutsche Besteuerungsrecht durch die Sitzverlegung nicht ausgeschlossen oder beschränkt wird.
Rz. 174
Unterhält die Körperschaft in der Bundesrepublik eine Betriebsstätte (sei es im Rahmen der unbeschränkten, sei es im Rahmen der beschränkten Steuerpflicht), bleibt das deutsche Besteuerungsrecht an den Wirtschaftsgütern und den Ergebnissen dieser Betriebsstätte nach dem Wegzug unverändert bestehen. Trotzdem erfolgt eine Liquidationsbesteuerung zum gemeinen Wert. Gedanklich muss dieser Fall als Liquidation der Betriebsstätte (der Körperschaft) und Neugründung verstanden werden. Das bedeutet, dass die Wirtschaftsgüter der inl. Betriebsstätte bei der gedanklichen Neugründung nach der Liquidationsbesteuerung ebenfalls mit dem gemeinen Wert anzusetzen sind. Da die stillen Reserven durch Ansatz des gemeinen Werts bei der Liquidationsbesteuerung bereits versteuert worden sind, würde ein Ansatz in der "Eröffnungsbilanz" der "neu gegründeten" Betriebsstätte mit dem ursprünglichen Buchwert zu einer doppelten Besteuerung führen. Das gilt auch, soweit die Verkehrswerte handelsrechtlich nicht aufgedeckt werden dürfen, sondern die Buchwerte fortzuführen sind. Ohne dass dies ausdrücklich bestimmt ist, muss der Maßgeblichkeitsgrundsatz insoweit durchbrochen werden. Die folgenden laufenden Gewinne der Betriebsstätte unterliegen weiterhin der Besteuerung, und zwar nach der beschränkten Steuerpflicht. Der Ermittlung dieser Gewinne bzw. der Abschreibungen sind steuerlich die gemeinen Werte zugrunde zu legen.
Rz. 175
Für die Frage, ob für den Inhaber der Anteile an der Kapitalgesellschaft Steuerfolgen eintreten, die infolge der "Sitzverlegung" der fiktiven Liquidationsbesteuerung nach § 12 Abs. 3 KStG unterliegt, ist zu unterscheiden. Da sich das Besteuerungsrecht für die Gewinne aus der Veräußerung der Anteile regelmäßig nach dem Ansässigkeitsstaat des Anteilsinhabers richtet, ist insoweit kein Besteuerungstatbestand erfüllt. Ist der Anteilsinhaber nicht im Inland ansässig, hatte Deutschland vor der Sitzverlegung insoweit kein Besteuerungsrecht, kann es also durch die Sitzverlegung auch nicht verloren haben. Ist er im Inland ansässig, behält Deutschland das Besteuerungsrecht. Ein Verlust des Besteuerungsrechts kann nur eintreten, wenn der Anteilsinhaber im Ausland ansässig ist und sich das Besteuerungsrecht nach dem einschlägigen DBA nach der Ansässigkeit der Kapitalgesellschaft richtet, oder wenn kein DBA besteht. In beiden Fällen würde ...