Prof. Dr. Gerrit Frotscher
Rz. 1
§ 27 ist die grundlegende materielle Vorschrift für das Anrechnungsverfahren; alle anderen Vorschriften des 4. Teils (Anrechnungsverfahren) haben nur den Charakter von Ergänzungs-, Hilfs- oder Durchführungsvorschriften (zur Systematik vgl. Rz. 4).
Die Bedeutung des § 27 ergibt sich aus der Methodik des Anrechnungsverfahrens, mit der die Doppelbelastung ausgeschütteter Gewinne ausgeschaltet wird. Die Beseitigung der Doppelbelastung erfolgt auf zwei Stufen:
- Die erste Stufe bildet die Ebene der Anrechnungskörperschaft. Hier wird die steuerliche Belastung des ausschüttbaren Eigenkapitals festgestellt (Gliederungsrechnung) und im Falle der Ausschüttung für den auszuschüttenden Eigenkapitalteil so verändert, dass sie der Tarifbelastung entspricht (Herstellung der Ausschüttungsbelastung). Diese Stufe des Anrechnungsverfahrens hat nur vorbereitenden Charakter, um die eigentliche Anrechnung zu ermöglichen; mit dieser Stufe ist andererseits das Anrechnungsverfahren auf der Ebene der Körperschaft abgeschlossen. Bis zum Veranlagungszeitraum 1993 wurde auf dieser ersten Stufe des Anrechnungsverfahrens eine einheitliche Steuerbelastung von 36 % hergestellt; zu diesem Zweck wurde die Tarifbelastung gemindert oder erhöht, bis die Vorbelastung des auszuschüttenden Eigenkapitals 36 % betrug. Ausgenommen hiervon waren nur Ausschüttungen aus dem EK 04 (Einlagen), bei denen keine Körperschaftsteuererhöhung erfolgte. Ab Veranlagungszeitraum 1994 ist die Ausschüttungsbelastung auf 30 % reduziert worden; sie ist, außer bei Ausschüttungen aus dem EK 04, auch nicht herzustellen bei Ausschüttungen aus dem EK 01 (ausländische Einkünfte). Die Ausschüttungsbelastung wird daher nur noch hergestellt bei Ausschüttungen aus dem belasteten Eigenkapital (EK 45, EK 40, EK 30) sowie bei Ausschüttungen aus EK 02 und EK 03.
- Die zweite Stufe des Anrechnungsverfahrens bildet die eigentliche Anrechnung auf der Ebene des Anteilseigners. Die Anrechnung erfolgt insoweit, als auf der Ebene der Anrechnungskörperschaft die Ausschüttungsbelastung herzustellen war, und demgemäß nicht, soweit die Ausschüttung aus EK 04 und EK 01 finanziert worden war.
Die Verbindung zwischen diesen beiden Ebenen des Anrechnungsverfahrens bildet die Steuerbescheinigung (vgl. §§ 44—46).
Rz. 2
Der erste Schritt des Anrechnungsverfahrens, das Herstellen einer gleichmäßigen Ausschüttungsbelastung von 30 % auf der Ebene der Körperschaft, ist nicht notwendig für das Funktionieren des Anrechnungsverfahrens im strengen Sinne, erleichtert die praktische Durchführung aber erheblich. Die einheitliche Belastung von 30 % des auszuschüttenden Gewinns vor Steuer (Bruttoausschüttung) entspricht 30/70 des Gewinns nach Abzug der Ausschüttungsbelastung (Barausschüttung). Diese Steuerbelastung der Anrechnungskörperschaft von 30/70 der Barausschüttung ist gleichzeitig das Anrechnungsguthaben des Anteilseigners. Dieser kann daher nach § 36 Abs. 2 Nr. 3 EStG auf seine Einkommensteuer 30/70 = 3/7 der Barausschüttung anrechnen. Gleichzeitig gehört dieses Anrechnungsguthaben von 3/7 der Barausschüttung nach § 20 Abs. 1 Nr. 3 EStG zu den Einkünften aus Kapitalvermögen. Soweit keine Ausschüttungsbelastung herzustellen ist — also auf Ausschüttungen aus EK 01 und EK 04 —, erfolgt auch keine Anrechnung (zur Wirkungsweise des Anrechnungsverfahrens vgl. Rz. 26).
Die einheitliche Ausschüttungsbelastung von 30 % ermöglicht die Anrechnung auf der Ebene der Anteilseigner ohne Rücksicht darauf, aus welchen Gewinnen die Ausschüttung der Anrechnungskörperschaft stammt. Es wird damit vermieden, in jedem einzelnen Fall der Anrechnung prüfen zu müssen, wie hoch die ausgeschütteten Gewinne auf der Ebene der Anrechnungskörperschaft steuerlich vorbelastet waren. Allerdings muss ermittelt und in der Steuerbescheinigung festgehalten werden, ob die Ausschüttung aus EK 01 oder EK 04 erfolgt.