Prof. Dr. Gerrit Frotscher
Rz. 5
Das Anrechnungsverfahren sieht vor, dass die Körperschaftsteuer bestimmter Körperschaften ("Anrechnungskörperschaften", vgl. Rz. 12ff.), die auf den ausschüttbaren Gewinnen lastet, im Falle der Ausschüttung auf die Einkommensteuer der Anteilsinhaber angerechnet wird. Damit wird erreicht, dass thesaurierte Gewinne sowie die nichtabzugsfähigen Ausgaben mit dem für die Körperschaft geltenden Steuersatz besteuert werden ("Tarifsteuersatz"), während die ausgeschütteten Gewinne mit dem für den Anteilseigner geltenden persönlichen Steuersatz belastet sind.
Das Anrechnungsverfahren hat steuersystematisch eindeutige Vorzüge. Das in der Kapitalgesellschaft zurückbehaltene Vermögen ist, unabhängig von den Steuersätzen der Anteilseigner, gleichmäßig mit dem Tarifsteuersatz belastet. Dadurch werden Wettbewerbsverzerrungen zwischen Kapitalgesellschaften vermieden, die eintreten würden, wenn der Steuersatz für Kapitalgesellschaften von den persönlichen Steuersätzen der Anteilsinhaber abhängen würde. Nach dem Anrechnungsverfahren sind thesaurierte Gewinne, die die Körperschaft zur Stärkung ihrer Wettbewerbsposition gegenüber anderen Körperschaften einsetzen kann, grundsätzlich gleich belastet.
Rz. 6
Andererseits wird das ausgeschüttete Vermögen mit dem persönlichen Steuersatz des Anteilsinhabers belastet; für den Anteilsinhaber sind also alle Einkunftsarten unter Belastungsaspekten gleichwertig. Damit wird vermieden, dass der Anteilsinhaber eine Einkunftsart allein aus steuerlichen Gründen gegenüber anderen Einkunftsarten bevorzugt.
Diese aus Sicht des Anteilseigners grundsätzliche Gleichwertigkeit der Einkunftsarten wird durch den Wegfall der Doppelbelastung der ausgeschütteten Gewinne erreicht. Durch die Anrechnung bzw. Vergütung der auf dem ausgeschütteten Vermögen ruhenden Vorbelastung mit Körperschaftsteuer wird eine wesentliche Benachteiligung in der Besteuerung der Gewinnausschüttungen gegenüber anderen Einkunftsarten, aber auch gegenüber anderen Einkünften aus Kapitalvermögen (z. B. Zinsen) beseitigt. Dies dient nicht nur der Förderung des Kapitalmarktes, sondern bedeutet auch einen wesentlichen Schritt hin zu einer rechtsfomunabhängigen Besteuerung.
Rz. 7
Das Anrechnungsverfahren in seiner derzeitigen Ausgestaltung hat aber auch wesentliche Schwächen. Insbesondere zu kritisieren ist, dass das Anrechnungsverfahren "national" ausgerichtet ist. Das bedeutet, dass die persönliche und sachliche Anwendung auf Inlandssachverhalte beschränkt ist. Dies wirkt sich in folgenden Bereichen aus:
- Anrechnungsberechtigt sind nur inländische Anteilseigner (vgl. Rz. 21ff.). Da das Anrechnungsguthaben Teil der dem Anteilseigner zufließenden Dividende ist, bedeutet dies, dass eine Ausschüttung einer inländischen Anrechnungskörperschaft für einen anrechnungsberechtigten Inländer einen höheren Wert hat als für einen nicht anrechnungsberechtigten Ausländer. Inländer werden also gegenüber Ausländern bevorzugt. Dies stellt einen Verstoß gegen die Freiheit des Kapitalverkehrs sowie gegen die Niederlassungsfreiheit und damit ein nichttarifäres Handelshindernis dar, das Art. 56 und Art. 43 EGV widerspricht. Eine Lösung könnte darin bestehen, zumindest EG-Ausländern die Anrechnung zu gewähren ("Anrechnung über die Grenze").
- Nur die von inländischen Kapitalgesellschaften ("Anrechnungskörperschaften", vgl. Rz. 12) gezahlte Körperschaftsteuer ist anrechenbar, nicht die von ausländischen Körperschaften gezahlte Steuer. Das bedeutet, dass für einen inländischen anrechnungsberechtigten Anteilseigner die Gewinnausschüttung einer inländischen Anrechnungskörperschaft eine um das Anrechnungsguthaben höhere Dividende erbringt als eine gleichhohe Gewinnausschüttung einer ausländischen Körperschaft. Der anrechnungsberechtigte Anteilseigner wird also dahin tendieren, in inländischen Kapitalgesellschaften zu investieren. Auch hierin liegt ein Verstoß gegen die Freiheit des Kapitalverkehrs sowie gegen die Niederlassungsfreiheit und damit gegen Art. 56 und Art. 43 EGV. Als Lösung bietet sich hier die Öffnung des Anrechnungsverfahrens für von ausländischen Kapitalgesellschaften gezahlte (ausländische) Steuern.
- Zur Tarifbelastung, die dem Anteilsinhaber von einer Anrechnungskörperschaft als Anrechnungsguthaben vermittelt werden kann, gehört nur die inländische Steuer. Bezieht eine Anrechnungskörperschaft ausländische Einkünfte, kann sie die im Ausland gezahlte Steuer nicht in Anrechnungsguthaben für die Anteilseigner umwandeln. Um anrechnungsberechtigten Anteilseignern eine gleichhohe Rendite zu verschaffen, muss die Körperschaft daher bei Verwendung ausländischer Einkünfte eine höhere Ausschüttung vornehmen als bei Verwendung inländischer Einkünfte. Die Körperschaft könnte dadurch veranlasst sein, im Inland statt im Ausland zu investieren. Unter Berücksichtigung der für die Ausschüttung benötigten Finanzmittel sind inländische Gewinne für die Körperschaft vorteilhafter als ausländische Gewinne. Auch hierin liegt ein Verstoß gegen die Freiheit des Kapitalverkehr...