Prof. Dr. Gerrit Frotscher
Rz. 1
§ 35 ergänzt die Regelung der §§ 27, 28, die bestimmen, wie zu verfahren ist, wenn für die Ausschüttung verwendbares Eigenkapital vorhanden ist. Es kann nun der Fall eintreten, daß Ausschüttungen erfolgen, ohne daß genügend verwendbares Eigenkapital zur Verfügung steht. Bei offenen Ausschüttungen wird dies nur in Sonderfällen eintreten, da handelsrechtlich Ausschüttungen nur zulässig sind, wenn in der Bilanz ein entsprechender Gewinn ausgewiesen ist; dann ist i. d. R. auch ein entsprechendes verwendbares Eigenkapital vorhanden. Offene Ausschüttungen bei fehlendem verwendbaren Eigenkapital sind aber denkbar, wenn die gesamte Altrücklage (EK 03) ausgeschüttet wird, dabei aber übersehen wird, daß aus diesem Betrag auch die Körperschaftsteuererhöhung zu finanzieren ist, die Altrücklage also nicht voll ausgeschüttet werden durfte. Möglich ist auch, daß das Eigenkapital nach der Handelsbilanz höher ist als das nach der Steuerbilanz und dadurch Gewinnausschüttungen erfolgen, die durch das Eigenkapital der Steuerbilanz nicht gedeckt sind. Allerdings werden, angesichts der uneingeschränkten Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz nach § 5 Abs. 1 EStG, diese Fälle sehr selten sein, nachdem die Preissteigerungsrücklage, für die die Maßgeblichkeit nicht gilt, nicht mehr gebildet werden darf und Wertaufholungen bei abnutzbarem Anlagevermögen nach § 6 Abs. 1 Ziff. 1 S. 4 EStG auch in der Steuerbilanz möglich sind. Bilanzierungshilfen (Ingangsetzungskosten, aktivische latente Steuern), die ein höheres Handelsbilanzkapital verursachen können, führen regelmäßig zu einer Ausschüttungssperre. I.d.R. ist das Eigenkapital in der Handelsbilanz niedriger als das in der Steuerbilanz (z. B. Aufwandsrückstellungen, höhere Abschreibungen).
Bis zum Gesetz v. 22.12.1983 lag der wesentliche Anwendungsbereich des § 35 im Bereich der Vorabausschüttungen und der verdeckten Gewinnausschüttung. Bis dahin wurden diese Ausschüttungen gegen das verwendbare Eigenkapital zum Beginn des Wirtschaftsjahres verrechnet, in dem diese Ausschüttung erfolgte; es kam daher häufig vor, daß nicht genügend verwendbares Eigenkapital vorhanden war, um diese Ausschüttungen zu finanzieren, da die entsprechenden Zugänge erst nach Abgang der Ausschüttung in die Gliederungsrechnung einzustellen waren. Da nunmehr Vorabausschüttung und verdeckte Gewinnausschüttung gegen das verwendbare Eigenkapital am Ende des Wirtschaftsjahres verrechnet werden, in dem die Ausschüttung vorgenommen wurde, wird in diesen Fällen regelmäßig ausreichendes verwendbares Eigenkapital für die Finanzierung der Ausschüttung zur Verfügung stehen, da jetzt die entsprechenden Zugänge vor den Abgängen aus der Ausschüttung in die Gliederungsrechnung einzustellen sind (vgl. hierzu grundlegend § 27 Rz. 71ff.). Die praktische Bedeutung des § 35 ist durch diese Gesetzesänderung stark gemindert worden.
Auch nach dieser Gesetzesänderung kann § 35 aber noch anwendbar sein, wenn sich in dem Wirtschaftsjahr, in dem die Ausschüttung bzw. die Vorabausschüttung vorgenommen wird, unter Berücksichtigung der verdeckten Gewinnausschüttung bzw. der Vorabausschüttung kein positives Einkommen ergibt, weil entweder der vorab ausgeschüttete Gewinn sich letztlich nicht realisiert bzw. weil sich durch Verluste trotz der Hinzurechnung der verdeckten Gewinnausschüttung ein negatives Einkommen ergab (zu einem Beispiel vgl. Rz. 8). In Sonderfällen kann § 35 auch deshalb anwendbar sein, weil ein negatives belastetes EK (EK 50, EK 45) besteht und daher trotz der Zugänge kein positives belastetes EK entsteht, aus dem die Ausschüttung finanziert werden könnte. Bei verdeckten Gewinnausschüttungen kann es auch zur Anwendung des § 35 führen, daß der begünstigte Anteilseigner zusätzlich zu dem Betrag der verdeckten Gewinnausschüttung den Anrechnungsanspruch erhält und dadurch das verwendbare Eigenkapital zusätzlich vermindert wird. Infolge der Erhöhung der verdeckten Gewinnausschüttung um den Anrechnungsanspruch bewirkt eine verdeckte Gewinnausschüttung von 100.000 DM einen Abgang an verwendbaren Eigenkapital
- bis Vz 1993 von 156.250 DM
- ab Vz 1994 von 142.857 DM.
Rz. 2
Der Grund für die Regelung des § 35 und für ihre Notwendigkeit liegt in der Ausgestaltung der Anrechnung der Körperschaftsteuer bei dem Anteilseigner. Nach § 36 Abs. 2 Nr. 3 EStG ist bei allen Einkünften aus § 20 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 EStG ein Betrag von 9/16 (bis Vz 1993) bzw. von 3/7 (ab Vz 1994) dieser Einnahmen auf die Einkommensteuer des Anteilseigners anzurechnen. Es wird auf dieser Ebene, der Ebene des Anteilseigners, nicht geprüft, ob Körperschaftsteuer in dieser Höhe überhaupt entstanden und bezahlt ist, von den Ausnahmen des § 36a EStG abgesehen. Um zu verhindern, daß auf der Ebene der Anteilseigner Körperschaftsteuer angerechnet wird, die auf der Ebene der Kapitalgesellschaft überhaupt nicht entstanden ist, müssen die Vorschriften über das körperschaftsteuerliche Anrechnungsverfahren sicherstellen, daß in jedem Fall, in dem ein Vermögen...