Prof. Dr. Gerrit Frotscher, Prof. Dr. Christoph Watrin
6.4.2.2.1 Allgemeines
Rz. 338
Zu den Wesensmerkmalen der ungewissen Verbindlichkeiten, für die Rückstellungen gebildet werden dürfen, gehört es, dass die Verbindlichkeiten Schuldcharakter aufweisen. Es muss sich also um eine Verpflichtung gegenüber einem Dritten handeln; Verpflichtungen des Kaufmanns "gegen sich selbst" (etwa sein Privatvermögen) genügen nicht, da insoweit rechtliche Personenidentität vorliegt. Die betriebswirtschaftliche Trennung bestimmter Vermögensmassen kann keine Rückstellung begründen. Daher ist Aufwand, den der Kaufmann in eigenem betrieblichen Interesse erbringt, ohne hierzu einem Dritten gegenüber verpflichtet zu sein ("eigenbetrieblicher Aufwand"), nicht rückstellungsfähig.
Dritter i. d. S., dem gegenüber die Verbindlichkeit besteht, kann bei Personengesellschaften auch ein Mitunternehmer bzw., wenn es um die Bilanzierung bei dem Mitunternehmer geht, auch die Personengesellschaft sein. Erforderlich ist, dass das Rechtsverhältnis, aus dem die Verbindlichkeit fließt, nicht zu dem nach § 15 EStG in die Mitunternehmerschaft einbezogenen Bereich gehört. Das ist der Fall, wenn die der (ungewissen) Verbindlichkeit entsprechende Forderung nicht zum Sonderbetriebsvermögen gehört. Steuerrechtlich gehört das Sonderbetriebsvermögen zum Bereich des Eigenkapitals des Gesellschafters, sodass sich hieraus keine Verpflichtungen zwischen Personengesellschaft und Gesellschafter ergeben können (vgl. § 15 Rz. 254ff.).
Rz. 339
Der Schuldcharakter ist nicht davon abhängig, dass die Schuld zu einer Erhöhung des Aufwands führt. Es genügt, dass hierdurch Betriebseinnahmen vermindert werden. Die Verbindlichkeitsrückstellung soll alle potenziell gewinnmindernden Faktoren in der Bilanz berücksichtigen; das ist sowohl bei einer Erhöhung des Aufwands als auch bei einer Verminderung der Einnahmen der Fall.
Rz. 340
Ist die Verpflichtung rechtlich entstanden, wenn auch in der Höhe ungewiss, weist sie immer Schuldcharakter auf. Ohne Bedeutung ist es, ob die Forderung fällig ist, und grundsätzlich auch, ob der Gläubiger seine Forderung kennt (vgl. zur Einschränkung dieses Grundsatzes bei Patent- und anderen Schutzrechtsverletzungen Rz. 458 "Schutzrechtsverletzungen" sowie bei Schadensersatzverpflichtungen Rz. 458 "Schadensersatzverpflichtungen").
Eine Rückstellung kann auch gebildet werden, wenn ungewiss ist, ob eine Verbindlichkeit entstanden ist. Die Rückstellung kann gebildet werden, wenn nach den am Bilanzstichtag objektiv gegebenen und bis zur Aufstellung der Bilanz subjektiv erkennbaren Verhältnissen mehr Gründe für als gegen das Bestehen einer Verbindlichkeit sprechen. Es genügt, dass der Kaufmann mit der Inanspruchnahme rechnen muss, auch wenn sie noch nicht sicher ist (Rz. 362). Allein die Möglichkeit des Bestehens der Verpflichtung genügt jedoch nicht.
Rz. 340a
Ist die Verbindlichkeit verjährt, besteht sie rechtlich trotzdem weiter, soweit es sich um eine zivilrechtliche Verbindlichkeit handelt; sie weist damit Schuldcharakter auf. Da dem Kaufmann nur ein Leistungsverweigerungsrecht zusteht, kann er die verjährte Verbindlichkeit erfüllen; die Bildung einer Rückstellung ist gerechtfertigt, solange ein vorsichtiger Kaufmann mit der Möglichkeit rechnen muss, dass er die Verbindlichkeit aus betrieblichen Gründen begleichen wird (Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme, Rz. 362ff.). Demgegenüber erlöschen Steueransprüche durch Verjährung (§ 47 AO); für verjährte Steueransprüche dürfen daher keine Rückstellungen gebildet werden.
6.4.2.2.2 Schuldcharakter bei öffentlich-rechtlichen Verpflichtungen
Rz. 341
Die Verpflichtung, und damit der Schuldcharakter, der zur Bildung der Rückstellung führt, braucht nicht im Zivilrecht (Gesetz oder Vertrag) begründet zu sein, es kann sich auch um eine öffentlich-rechtliche Pflicht handeln. "Verpflichtung" ist i. S. der Definition des § 241 BGB zu verstehen, d. h. die Pflicht des Schuldners, an den Gläubiger eine Leistung zu erbringen. Es muss also ein Gläubiger vorhanden sein, demgegenüber der Kaufmann als Schuldner die Verpflichtung erfüllen muss. Eine solche Verpflichtung kann sich auch aus öffentlich-rechtlichen Rechtsverhältnissen ergeben.
"Gläubiger" bei öffentlich-rechtlichen Pflichten ist diejenige Institution (Behörde), die das Erbringen der Leistung (Tun, Dulden, Unterlassen) verlangen kann.
Rz. 341a
Es muss sich um eine Verpflichtung gegenüber der Behörde auch dem Grunde nach handeln. Das ist nur der Fall, wenn der Stpfl. nicht eine eigenbetriebliche, ihm im eigenen Interesse obliegende Aufgabe erfüllt, sondern eine ihm durch Gesetz oder behördliche Verfügung auferlegte Aufgabe, die er selbst, im wohlverstandenen eigenbetrieblichen Interesse, nicht erfüllt hätte. So ist etwa die Abfallbeseitigung keine öffentlich-rechtliche Verpflichtung i. d. S. Ein Unternehmer muss den in seinem...