Prof. Dr. Gerrit Frotscher, Prof. Dr. Christoph Watrin
6.5.5.1 Passivierungspflicht
Rz. 495
Für passivierungsfähige Verbindlichkeiten besteht handelsrechtlich und steuerrechtlich uneingeschränkte Passivierungspflicht. Ein Passivierungswahlrecht steht dem Stpfl. nicht zu. Nach § 246 Abs. 1 HGB hat der Jahresabschluss "sämtliche" Schulden auszuweisen. Auch die GoB erfordern eine vollständige Erfassung des (aktiven und) passiven Vermögens; das Vollständigkeitsprinzip gilt über § 5 Abs. 1 auch für die steuerrechtliche Gewinnermittlung nach § 5 und nach § 4 Abs. 1. Eine Bilanz, in der eine auszuweisende Verbindlichkeit fehlt, ist sowohl als Schlussbilanz des abgelaufenen Wirtschaftsjahrs als auch als Anfangsbilanz für das folgende Wirtschaftsjahr unrichtig. Eine unterlassene Passivierung ist in der frühesten noch berichtigungsfähigen (Schluss-)Bilanz mit Gewinnauswirkung nachzuholen. Ein bewusstes Unterlassen der Passivierung hat allerdings zur Folge, dass die Passivierung unter Durchbrechung des Bilanzzusammenhangs in einer Anfangsbilanz – somit ohne Gewinnauswirkung – zu erfolgen hat (vgl. im Einzelnen § 4 Rz. 156ff. und zur eingeschränkten Geltung des Nachholverbots bei Rückstellungen Rz. 432). Auch die spätere Erfüllung der Verbindlichkeit kann sich in diesem Falle nicht mehr gewinnmindernd auswirken.
6.5.5.2 Saldierungsverbot
Rz. 496
Eine passivierungsfähige und passivierungspflichtige Verbindlichkeit ist in der Bilanz auch dann auszuweisen, wenn sie mit einem wertgleichen Aktivposten zusammenhängt. Eine Saldierung zwischen Aktivposten und Passivposten verstößt gegen den Grundsatz der Bilanzklarheit. Der entsprechende in § 246 Abs. 2 HGB formulierte Grundsatz ist Bestandteil der GoB (Rz. 28). Eine wegen einer Schadensersatz- Verpflichtung bestehende Regressforderung gegen einen Dritten ist mithin ggf. getrennt als Aktivposten anzusetzen.
Rz. 497
Das Saldierungsverbot ist lediglich eingeschränkt für Fälle, in denen sich Forderungen und Schuld in aufrechenbarer Weise gegenüberstehen (Adler/Düring/Schmaltz, Rechnungslegung und Prüfung der Aktiengesellschaft, § 246 HGB Rz. 231). In einem solchen Falle kann auch schon vor einer ausdrücklichen Erklärung der Aufrechnung saldiert werden. Bei vereinbarten Verrechnungs-(Kontokorrent-)Verhältnissen ist sogar lediglich der Saldo auszuweisen. Eine Pflicht zur Saldierung kann sich auch ergeben, wenn innerhalb einer Aufrechnungslage die Forderung notleidend geworden ist; hier könnte die Nichtsaldierung gegen den Grundsatz der Bilanzwahrheit verstoßen.
6.5.5.3 Zeitpunkt der Passivierung ("wirtschaftliche Verursachung")
Rz. 498
Da in der zu passivierenden Verbindlichkeit die Vermögensminderung zum Ausdruck kommen soll, ist sie zu passivieren, sobald die Vermögensminderung wirtschaftlich verursacht ist. Wirtschaftlich verursacht ist eine Belastung, wenn sie dem abgelaufenen Wirtschaftsjahr zuzuordnen ist (vgl. Rz. 352; BFH v. 3.7.1997, IV R 49/96, BStBl II 1998, 244, BFH/NV 1997, 480 – Druckbeihilfen). Dabei ist zwischen rechtlich bereits entstandenen (und noch bestehenden), rechtlich noch nicht entstandenen (oder nicht mehr bestehenden) und faktischen Verbindlichkeiten zu unterscheiden (bestritten, die rechtliche Entstehung für unerheblich hält Weber-Grellet, Schmidt, EStG, § 5 Rz. 384 m. w. N.; das Rechtsgebiet ist derzeit noch wenig systematisiert).
Rz. 499
Ist die Verbindlichkeit am Stichtag bereits rechtlich entstanden, so ist die Vermögensminderung i. d. R. eingetreten und der Stpfl. wirtschaftlich belastet; die Verbindlichkeit ist im Regelfall auszuweisen. Eine Verbindlichkeit ist entstanden, sobald alle wesentlichen Voraussetzungen erfüllt sind, von denen Vertrag oder Gesetz die Entstehung abhängig machen. Ob die Verbindlichkeit mit bereits erzielten Erträgen oder mit erst in der Zukunft zu erzielenden Erträgen in Zusammenhang steht, ist nur im Rahmen der Ausführungen in Rz. 486 ausschlaggebend. Auch Aufwand, der mit künftigen Erträgen in Zusammenhang steht, ist mit Verursachung zu bilanzieren, wenn er entstanden ist, z. B. bei Forschungsaufwand ("realisierter Aufwand"). Auch auf die Fälligkeit der Verbindlichkeit kommt es nicht an; auch eine noch nicht fällige Verbindlichkeit verursacht eine Vermögensminderung (Rz. 468). Fehlt es jedoch ausnahmsweise trotz der rechtlichen Entstehung an einer wirtschaftlichen Belastung – so bei Verbindlichkeiten aus beiderseits noch nicht erfüllten schwebenden Geschäften und den weiteren in Rz. 484ff. genannten Ausnahmefällen –, so ist eine Verbindlichkeit (noch) nicht zu bilanzieren.
Rz. 500
Die Frage, unter welchen Voraussetzungen Verbindlichkeiten schon vor dem Zeitpunkt ihrer rechtlichen Entstehung auszuweisen sind, stellt sich vornehmlich bei der Bilanzierung von Rückstellungen, weil Verbindlichkeiten vor ihrer rechtlichen Entstehung meist dem Grunde oder der Höhe nach ungewiss sind. Soweit sich bei "gewissen" Verbindlichkeiten diese Frage stellt, ist sie nach denselben Kriterien zu beantworten wie bei den Rückstellungen, weil sich beide Posten in dieser Hinsicht nur durch das Merkmal der "Ungewissheit" unterscheiden. Vgl. deshalb zunächst Rz. 352. Die Bi...