Dipl.-Finanzwirt Kirsten Happe
4.2.1 Freizügigkeitsberechtigte EU-Bürger (Abs. 1a)
Rz. 25
Für EU-Bürger und Staatsangehörige aus einem anderen EWR-Staat sowie die sie begleitenden Familienangehörigen gelten die Erfordernisse des § 62 Abs. 2 EStG nicht.
Innerhalb der EU-/EWR-Staaten werden – unabhängig von den jeweiligen nationalen Kindergeldvorschriften – die Vorschriften über die soziale Sicherheit seit dem 1.5.2010 durch die VO 883/2004/EG geregelt. Davon umfasst sind auch die Regelungen zu den Familienleistungen, zu denen das Kindergeld – auch in seiner Ausgestaltung als Steuervergütung – gehört. Diese Verordnungen haben als Unionsrecht Anwendungsvorrang für diejenigen Stpfl., die in ihren persönlichen Anwendungsbereich fallen.
Für den Kindergeldanspruch freizügigkeitsberechtigter Ausländer ist für Zeiträume ab August 2019 § 62 Abs. 1a EStG zu beachten. Demnach besteht für EU-/EWR-Ausländer für die ersten 3 Monate ab Begründung des inländischen Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts kein Anspruch auf Kindergeld. Nach § 62 Abs. 1a S. 2 EStG gilt dies nicht, wenn nachgewiesen wird, dass inländische Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft, Gewerbebetrieb, selbstständiger Arbeit oder aus nicht selbstständiger Arbeit (ausgenommen sind Wartegelder, Ruhegelder etc. nach § 19 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 EStG) erzielt werden. Nach Ablauf des Zeitraums von 3 Monaten, besteht ein Kindergeldanspruch, es sei denn bestimmte Voraussetzungen des Rechts auf Aufenthalt und Einreise nach dem FreizügG/EU sind nicht erfüllt. Der Zeitraum von 3 Monaten ist dabei taggenau zu ermitteln. Es ist nicht auf Kalendermonate abzustellen. Dies kann in Fällen entscheidend sein, in denen die Voraussetzungen nach § 62 Abs. 1a S. 1 EStG erfüllt sind und ein Kindergeldanspruch für die ersten 3 Monate ab Begründung des Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts besteht, im Anschluss jedoch ein Anspruch ausgeschlossen ist, weil die Voraussetzungen des Rechts auf Aufenthalt und Einreise nach dem FreizügG/EU nicht erfüllt sind. Nach § 66 Abs. 2 EStG ergibt sich, dass Kindergeld für jeden Monat zu gewähren ist, in dem die Anspruchsvoraussetzungen wenigstens an einem Tag erfüllt sind. So kommt eine Kindergeldberechtigung für 4 Monate in Betracht, wenn sich der dreimonatige Zeitraum auf 4 Kalendermonate verteilt.
Die Prüfungskompetenz, ob die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Kindergeld nach § 62 Abs. 1a S. 2 EStG vorliegen oder nach § 62 Abs. 1a S. 3 EStG nicht erfüllt sind, obliegt der Familienkasse (§ 62 Abs. 1a S. 4 EStG i. V. m. § 2 Abs. 2 und 3 FreizügG/EU). Eine ablehnende Entscheidung muss sie der zuständigen Ausländerbehörde mitteilen (§ 62 Abs. 1a S. 5 EStG).
Der Gesetzgeber beabsichtigt damit, neu zugezogenen EU-/EWR-Staatsangehörigen Kindergeld nur dann zur Verfügung zu stellen, soweit sie wirtschaftlich aktiv sind und regelt die Abhängigkeit des Anspruchs von einem ausreichenden Aufenthaltsrecht.
Nach seiner Auffassung wird dabei das garantierte Freizügigkeitsrecht nicht eingeschränkt, da nicht jeder Grund für die Inanspruchnahme des Freizügigkeitsrechts auch für die Inanspruchnahme von Kindergeld ausreiche. Dabei stützt er sich auf EuGH-Rspr., die sich auf Sozialleistungen beziehen. Nach § 31 S. 3 EStG wird das Kindergeld als Steuervergütung gezahlt und stellt so im formellen Sinne keine Sozialleistung mehr dar. Mit Urteil v. 1.8.2022 hat der EuGH entschieden, dass die Beschränkung des § 62 Abs. 1a EStG nicht mit EU-Recht vereinbar ist. Nicht wirtschaftlich aktive EU-Bürger würden gegenüber wirtschaftlich nicht aktiven Deutschen nicht gerechtfertigt diskriminiert.
Rz. 26
Die am 1.1.2011 in Kraft getretene VO (EU) Nr. 1231/2010 bringt eine Erleichterung für Ausländer aus Drittstaaten, die in einem EU-Staat – nicht jedoch in Dänemark und Großbritannien – leben. Seit 2011 gilt auch für Drittstaatsangehörige mit rechtmäßigem Wohnsitz in einem EU-Land die VO (EG) Nr. 883/2004. Die Richtlinie 2011/98 EU v. 13.12.2011, die zum 25.12.2013 in deutsches Recht umgesetzt wurde, regelt in Art. 12 Abs. 1 Buchst. e), dass Drittstaatsarbeitnehmer beim Anspruch auf Familienleistungen das Recht auf Gleichbehandlung mit deutschen Staatsangehörigen haben.