Dipl.-Finanzwirt Kirsten Happe
Rz. 27
Die VO 883/2004/EG gilt für EU-/EWR Bürger (einschließlich der Schweiz), Staatenlose und Flüchtlinge sowie für deren Familienangehörige und Hinterbliebene. Entfallen ist die früher in Art. 2 VO 1408/71/EWG enthaltene Beschränkung auf Arbeitnehmer, Selbstständige und Studierende. Zunächst muss der persönliche Anwendungsbereich der VO eröffnet sein. Danach ist nach Art. 11ff. VO 883/2004/EG der zuständige Staat zu ermitteln. Dieser richtet sich primär nach dem Beschäftigungsstaat, hilfsweise nach dem Wohnsitzstaat. Ergeben die Kollisionsnormen der Art. 11 bis 16 VO 883/2004 EG bzw. die Prioritätsregeln beim Zusammentreffen mehrerer Ansprüche in Art. 68 VO 883/2004/EG, dass der andere Staat der für die Gewährung der Familienleistungen zuständige Staat ist, bedeutet das allerdings nach der Rspr. des EuGH nicht, dass dadurch ein nach dem Recht des nicht zuständigen Staates bestehender Kindergeldanspruch ausgeschlossen wäre. Demzufolge entfällt ein sich aus § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b) EStG ergebender Anspruch auf Kindergeld nicht dadurch, dass der Anspruchsberechtigte nach den gemeinschaftlichen Verordnungen zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit nicht den deutschen Rechtsvorschriften, sondern nur den Vorschriften eines anderen Mitgliedstaats der EU unterliegt. Erhält ein nach den §§ 62ff. EStG Berechtigter in dem nach den für die Gewährung von Familienleistungen zuständigen Beschäftigungsmitgliedstaat dem Kindergeld vergleichbare Familienleistungen, gilt die den Kindergeldanspruch ausschließende Antikumulierungsregel des § 65 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 EStG nicht. Solche Leistungen sind auf den Kindergeldanspruch anzurechnen. In Fällen, in denen der persönliche Anwendungsbereich der Verordnungen eröffnet ist, ist nach der Rspr. des EuGH das volle Kindergeld entgegen dem Wortlaut des § 65 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 EStG auch dann zu zahlen, wenn zwar ein Anspruch auf Familienleistungen im Beschäftigungsmitgliedstaat besteht, die Familienleistungen dort faktisch aber nicht bezogen werden, weil kein entsprechender Antrag gestellt wurde und zwar unabhängig davon, ob der andere Elternteil im Beschäftigungsmitgliedstaat den Antrag nicht gestellt hatte oder ob die Berechtigte selbst die Antragstellung versäumt hat.
Verfahrensrechtlich zu berücksichtigen ist, dass ein Kindergeldantrag, der von einem im Inland lebenden, jedoch nur nachrangig berechtigten Elternteil gestellt worden ist, den Ablauf der Festsetzungsfrist hemmt und den Eintritt der Festsetzungsverjährung zugunsten des anderen, im EU-Ausland lebenden Elternteils, der vorrangig anspruchsberechtigt ist, aber zunächst keinen eigenen Kindergeldantrag gestellt hat, verhindert.
Anders ist es dann, wenn der persönliche Geltungsbereich der Verordnungen nicht eröffnet ist. Dann ist eine etwaige Anspruchskonkurrenz gem. § 65 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 EStG aufzulösen. In diesem Fall führt schon das bloße Bestehen eines Anspruchs auf ausl. Familienleistungen zum Ausschluss des deutschen Kindergeldes.
Rz. 28
Das Freizügigkeitsrecht ergibt sich unmittelbar aus dem Gemeinschaftsrecht. Eine Bescheinigung gem. § 5 Abs. 1 FreizügG/EU hat lediglich deklaratorische Wirkung. Bei der Prüfung der Voraussetzungen für den Kindergeldanspruch nach § 62 EStG muss das Freizügigkeitsrecht eines Unionsbürgers unterstellt werden, solange nicht die zuständige Ausländerbehörde das Nichtbestehen dieses Rechts ausdrücklich festgestellt hat. Die Feststellung der fehlenden Freizügigkeit obliegt – auch hinsichtlich der Kindergeldfestsetzung – dabei allein den Ausländerbehörden und den Verwaltungsgerichten, nicht jedoch den Familienkassen. Erst nach einer Feststellung des Nichtbestehens oder des Verlustes des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU benötigt der Unionsbürger gem. § 11 Abs. 2 FreizügG/EU einen Aufenthaltstitel nach dem Aufenthaltsgesetz, will er sich weiterhin legal in Deutschland aufhalten und Kindergeld beanspruchen.