1.1 Rechtsentwicklung
Rz. 1
§ 75 EStG wurde durch das JStG 1996 im Zusammenhang mit der Umgestaltung des bisherigen Familienlastenausgleichs zum sog. Familienleistungsausgleich mit Geltung ab Vz 1996 eingefügt (zur Rechtsentwicklung s. § 31 EStG Rz. 3ff.). Durch das FamFG v. 22.12.1999 wurde Abs. 2 dahingehend geändert, dass Abs. 1 nicht nur für zusammenlebende Ehegatten, sondern für alle in Haushaltsgemeinschaft lebenden Kindergeldberechtigten gilt.
Durch das 4. Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt v. 24.12.2003 wurde die Unzulässigkeit der Aufrechnung auf Ansprüche nach dem SGB II erweitert. Das Gesetz zur Einordnung des Sozialhilferechts in das SGB v. 27.12.2003 ersetzte den Verweis in Abs. 1 auf das BSHG durch Verweis auf das SGB XII.
Durch das JStG 2007 v. 13.12.2006 wurde Abs. 1 mit Geltung ab 2007 an § 12 BKKG (ab 2.1.2009 § 12 BKGG), der auf § 51 SGB I verweist, angepasst. Eine Rechtsänderung ist dadurch nicht eingetreten. Der Nachweis der Hilfebedürftigkeit obliegt nun ausdrücklich dem Berechtigten. Bisher galt dies schon aufgrund seiner allgemeinen Mitwirkungspflichten.
Mit dem ZKAnpG v. 22.12.2014 wurde m. W. v. 1.1.2015 der Begriff der Rückzahlung in § 75 Abs. 1 EStG durch den Begriff der Erstattung ersetzt. So wird in Abs. 1 klargestellt, dass nicht nur mit Ansprüchen auf laufendes, sondern auch mit nachzuzahlendem Kindergeld aufgerechnet werden kann. Eine entsprechende Änderung in § 75 Abs. 2 EStG ist unterblieben.
1.2 Bedeutung
Rz. 2
Die Vorschrift enthält besondere Regelungen für die abgabenrechtliche Aufrechnung nach § 226 AO für die Aufrechnung eines Anspruchs der Familienkasse wegen überzahlten Kindergelds mit laufendem Kindergeld bzw. seit 2015 auch mit nachzuzahlendem Kindergeld. Sie stellt die Beibehaltung der bisherigen eingeschränkten Aufrechnungsbefugnis der Familienkasse sicher. Die Regelung entspricht § 51 SGB I und § 12 BKKG n. F. (§ 23 Abs. 2 BKKG a. F.). § 226 AO, §§ 387ff. BGB gelten entsprechend.
§ 75 EStG regelt nur die Aufrechnung durch die Familienkasse mit Ansprüchen auf Erstattung von Kindergeld (sog. Gegenforderung) gegen Ansprüche des Berechtigten auf laufendes Kindergeld bzw. nachzuzahlendes Kindergeld (sog. Hauptforderung). § 75 EStG privilegiert die Familienkasse gegenüber anderen Gläubigern des Kindergeldberechtigten. Diese sind nach § 226 AO i. V. m. § 394 BGB an die Pfändungsbeschränkungen gebunden. Da das Kindergeld nach § 76 EStG grundsätzlich unpfändbar ist, wäre eine Aufrechnung unmöglich. Die der Familienkasse eingeräumte Möglichkeit der Aufrechnung ist lediglich durch die Hilfsbedürftigkeitsgrenze nach dem Sozialhilferecht begrenzt.
Die Aufrechnung des Kindergeldberechtigten mit seinem noch nicht ausgezahlten Kindergeldanspruch gegen Ansprüche der Familienkasse regelt sich nur nach § 226 AO, §§ 387ff. BGB. Der Berechtigte kann daher in vollem Umfang mit seinem Kindergeldanspruch gegen Rückforderungsansprüche der Familienkasse aufrechnen. Die Pfändungsbeschränkung nach § 394 BGB gilt hier nicht.
Der Familienkasse muss ein fälliger Anspruch auf Rückzahlung von Kindergeld zustehen. Mit dieser Forderung (Gegenforderung) kann die Familienkasse gegen einen Anspruch des Berechtigten (Abs. 1) auf laufendes oder nachzuzahlendes Kindergeld (Hauptforderung) aufrechnen. § 75 Abs. 2 EStG erweitert als Ausnahme vom Grundsatz der Gegenseitigkeit die Aufrechnungsmöglichkeit gegen einen späteren Kindergeldanspruch eines mit dem Erstattungspflichtigen in Haushaltsgemeinschaft lebenden Berechtigten, um zu verhindern, dass durch Änderung des Kindergeldberechtigten die Aufrechnung unmöglich gemacht wird. Nach FG München soll die Familienkasse auf Ersuchen des FA analog § 75 EStG mit einem Steuererhöhungsanspruch aus dem Wegfall eines Kinderfreibetrags bzw. aus einer nachträglichen Anrechnung von Kindergeld gegen den Kindergeldanspruch aufrechnen können.