Leitsatz
1. Ein Betreiber von Geldspielautomaten kann nicht im Hinblick auf das EuGH-Urteil vom 17.2.2005, Rs. C-453/02 und Rs. C-462/02 – Linneweber und Akritidis – (Slg. 2005, I-1131) die Änderung bestandskräftiger Steuerfestsetzungen verlangen.
2. Die Einspruchsfrist von einem Monat gem. § 355 Abs. 1 AO ist gemeinschaftsrechtlich nicht zu beanstanden.
3. Zu den Voraussetzungen eines gemeinschaftsrechtlichen Vollzugsfolgenbeseitigungs- und Erstattungsanspruchs.
Normenkette
§ 4 Nr. 9 Buchst. b UStG 1993, Art. 13 Teil B Buchst. f der 6. EG-RL, § 355 Abs. 1 AO, Art. 10 EG
Sachverhalt
Der Kläger hatte seine Umsätze aus den Spielautomaten versteuert und wollte die Aufhebung der bestandskräftigen Steuerbescheide erreichen. Ohne Erfolg, bei FG und auch BFH.
Entscheidung
Der BFH wies die Revision aus den erläuterten Gründen zurück. Keiner der vom EuGH entschiedenen Sonderfälle lag vor; im Übrigen gilt für die Geltendmachung von Ansprüchen, die sich aus Gemeinschaftsrecht ergeben, das nationale Verfahrensrecht.
Hinweis
Beurteilt der EuGH eine für den Steuerpflichtigen ungünstige Regelung als gemeinschaftswidrig, möchte – nicht anders als wenn der BFH eine für den Steuerpflichtigen günstige Entscheidung trifft – jeder Betroffene diesen Vorteil auch haben. Ist der Steuerbescheid bestandskräftig, ist nach den Regelungen der AO allein deswegen keine Änderung der bestandskräftigen Steuerfestsetzung möglich. Gemeinschaftsrechtlich ist das nicht anders.
1. Der in Art. 10 EG verankerte Grundsatz der Zusammenarbeit verpflichtet zwar eine Verwaltungsbehörde auf entsprechenden Antrag hin, eine bestandskräftige Verwaltungsentscheidung zu überprüfen, um der mittlerweile vom EuGH vorgenommenen Auslegung der einschlägigen Bestimmung Rechnung zu tragen, wenn u.a. die Behörde nach nationalem Recht befugt ist, diese Entscheidung zurückzunehmen. Aber: Auch die Rechtssicherheit gehört zu den im Gemeinschaftsrecht anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen.
Daher verlangt das Gemeinschaftsrecht nicht, dass eine Verwaltungsbehörde grundsätzlich verpflichtet ist, eine bestandskräftige Verwaltungsentscheidung zurückzunehmen (vgl. EuGH, Urteil vom 13.1.2004, Rs. C-453/00 – Kühne und Heitz –, HFR 2004, 488, Rd.Nr. 24 des Urteils). Der EuGH hat klargestellt, dass dies nur unter der – im Fall "Kühne und Heitz" vorliegenden – Voraussetzung gilt, dass die Behörde nach nationalem Recht zur Rücknahme der Entscheidung befugt ist (vgl. EuGH, Urteile vom 16.3.2006, Rs. C-234/04 – Kapferer –, Slg. 2006, 2585, NJW 2006, 1577).
2. Nach der Rechtsprechung des EuGH verbietet das Gemeinschaftsrecht es bei seinem gegenwärtigen Stand nicht, einem Bürger, der vor einem innerstaatlichen Gericht die Entscheidung einer innerstaatlichen Stelle wegen Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht anficht, den Ablauf der im innerstaatlichen Recht vorgesehenen Fristen für die Rechtsverfolgung entgegenzuhalten; es darf nur das Verfahren für die Klage nicht ungünstiger ausgestaltet sein als für gleichartige Klagen, die das innerstaatliche Recht betreffen (EuGH, Urteil vom 16.12.1976, Rs. 33/76 – Rewe –, NJW 1977, 495). Die Festsetzung angemessener Ausschlussfristen – wie die Einspruchsfrist – für die Rechtsverfolgung im abgabenrechtlichen Bereich ist ein Anwendungsfall des grundlegenden Prinzips der Rechtssicherheit, das zugleich den Abgabepflichtigen und die Behörde schützt (vgl. Rewe, aaO, Rd.Nr. 5; EuGH, Urteil vom 7.9.2006, Rs. C-470/04 – N –, DStR 2006, 1691, Rd.Nr. 59).
3. Ein Steuerpflichtiger kann nach der Rechtsprechung des EuGH mit Rückwirkung auf den Tag des Inkrafttretens der im Widerspruch zur 6. EG-RL stehenden nationalen Rechtsvorschriften die Erstattung der ohne Rechtsgrund gezahlten Mehrwertsteuer nur nach den in der innerstaatlichen Rechtsordnung des betreffenden Mitgliedstaats festgelegten Verfahrensmodalitäten verlangen, sofern diese Modalitäten nicht ungünstiger sind als für gleichartige Klagen, die das innerstaatliche Recht betreffen, und nicht so ausgestaltet sind, dass sie die Ausübung der Rechte, die die Gemeinschaftsrechtsordnung einräumt, praktisch unmöglich machen (vgl. z.B. EuGH, Urteil vom 6.7.1995, Rs. C-62/93 – Soupergaz –, HFR 1995, 606).
4. Ein Mitgliedstaat darf sich nicht auf einen vor Beitritt erlassenen, bestandskräftigen Verwaltungsakt berufen (EuGH, Urteil vom 29.4.1999, Rs. C-224/97 – Ciola –, NJW 1999, 2355). Diese Entscheidung betrifft speziell die Beitrittssituation und auch nur Verwaltungsakte. Sie ist deshalb nicht verallgemeinerungsfähig.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 23.11.2006, V R 67/05