Leitsatz
1. Ist der Einkommensteuerbescheid des Verlustentstehungsjahres bestandskräftig und berücksichtigt er keinen Verlust, ist der erstmalige Erlass eines Feststellungsbescheids über den verbleibenden Verlustvortrag nach § 10d Abs. 4 Satz 4 EStG i.d.F. des JStG 2010 nur zulässig, soweit eine Korrektur dieses Steuerbescheids nach den Vorschriften der Abgabenordnung hinsichtlich der bei der Ermittlung des Gesamtbetrags der Einkünfte nicht ausgeglichenen negativen Einkünfte möglich ist und diese der Steuerfestsetzung tatsächlich zu Grunde gelegt worden sind.
2. § 351 Abs. 1 AO gilt bei der Anwendung von § 10d Abs. 4 Satz 4 EStG entsprechend; die Aufzählung in § 10d Abs. 4 Satz 4 2. Halbsatz EStG ist nicht abschließend.
3. Eine Besteuerungsgrundlage ist der Steuerfestsetzung i.S.v. § 10d Abs. 4 Satz 4 EStG nicht "zu Grunde gelegt worden", soweit sie sich wegen § 351 Abs. 1 AO auf die Höhe der festgesetzten Steuer nicht ausgewirkt hat.
Normenkette
§ 10d Abs. 4 Sätze 4 und 5, § 52 Abs. 25 Satz 5 EStG, §§ 164f., §§ 172 ff., § 351 Abs. 1 AO, § 120 Abs. 3 FGO
Sachverhalt
Die Klägerin und ihr verstorbener Ehemann ließen den ESt-Bescheid des Streitjahrs (2006) bestandskräftig werden. Nach einer Außenprüfung erhöhte das FA den Gesamtbetrag der Einkünfte und die festgesetzte ESt. Dagegen legten die Eheleute Einspruch ein und erklärten erstmals einen Verlust gemäß § 17 Abs. 1 EStG, den das FA wie folgt berücksichtigte: Im Streitjahr Abzug des Verlusts bis zur Höhe des Gesamtbetrags der Einkünfte, Festsetzung der ESt nach Maßgabe von § 351 Abs. 1 AO (keine Reduzierung auf 0 EUR möglich); im Rücktragsjahr Abzug des Verlusts bis zur Höhe des Gesamtbetrags der Einkünfte und Festsetzung der ESt auf 0 EUR (nach § 10d Abs. 1 Sätze 3 und 4 EStG). Die Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs auf den 31.12. des Verlustentstehungsjahrs lehnte das FA ab. Das FG hat die Klage abgewiesen (FG München, Urteil vom 1.6.2015, 10 K 650/14, Haufe-Index 8349234, EFG 2015, 1688).
Entscheidung
Die Revision der Klägerin hatte keinen Erfolg. Der BFH hat das Urteil des FG bestätigt, wonach eine Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs ausscheidet, weil sich die Berücksichtigung des Verlusts im Streitjahr wegen § 351 Abs. 1 AO nicht in der Weise ausgewirkt hat, dass die ESt auf 0 EUR festgesetzt worden ist.
Hinweis
Bei der Feststellung des verbleibenden Verlustvortrags sind nach § 10d Abs. 4 Satz 4 EStGdie Besteuerungsgrundlagen so zu berücksichtigen, wie sie den Steuerfestsetzungen im VZ der Verlustentstehung und im VZ, in dem ein Verlustrücktrag vorgenommen werden kann, zugrunde gelegt worden sind.
1. Diese durch das JStG 2010 (BGBl I 2010, 1768) eingefügte Regelung bewirkt eine inhaltliche Bindung des Verlustfeststellungsbescheids an den (die) ESt-Bescheid(e), obwohl der ESt-Bescheid insoweit kein Grundlagenbescheid ist. Aber woran knüpft die Bindung an, an den Tenor des Bescheids oder daran, welche Besteuerungsgrundlagen in ihm berücksichtigt sind?
2. Der BFH hat die gesetzliche Formulierung "wie sie den Steuerfestsetzungen … zugrunde gelegt worden sind" dahin ausgelegt, dass sich die im Bescheid berücksichtigten Besteuerungsgrundlagen auch auf die Höhe der festgesetzten Steuer ausgewirkt haben müssen (Leitsatz 3).
a) Bindungswirkung entfaltet danach grundsätzlich nur ein ESt-Bescheid, in dem die Einkommensteuer (wegen des Verlusts) mit 0 EUR festgesetzt worden ist. Dafür spreche nicht nur der Wortlaut der Vorschrift. Etwas anderes gelte nach § 10 Abs. 4 Satz 5 EStG nur, wenn die Voraussetzungen einer Änderungsnorm vorliegen, die Änderung aber mangels Auswirkungen auf die Höhe der Steuer unterbleibt. Dies schließe eine Berücksichtigung der Besteuerungsgrundlagen ohne Auswirkung auf die Höhe der festgesetzten Steuer in anderen Fällen aus.
b) Diese strenge Bindung an die Bestandskraft des ESt-Bescheids entspreche auch dem Willen des historischen Gesetzgebers. Die Neuregelung sollte die Rechtsprechung aushebeln, wonach ein Verlustvortrag mangels Bindung an den ESt-Bescheid auch nach dessen Bestandskraft und ohne Berücksichtigung von dessen Inhalt erlassen werden konnte (BFH, Urteil vom 17.9.2008, IX R 70/06, BFHE 223, 50, BFH/NV 2009, 65; dazu Heuermann, BFH/PR 2009, 51).
3. Wegen der strengen Bindung an die Bestandskraft, so der BFH, müsse § 351 Abs. 1 AO entsprechend angewandt werden, obwohl die Vorschrift in § 10d Abs. 4 Satz 4 EStG nicht erwähnt wird (wohl aber § 351 Abs. 2 AO). Die Aufzählung sei nicht abschließend. Allgemeine Verfahrensvorschriften wie § 351 Abs. 1 AO seien nicht exkludiert. Hat sich die Berücksichtigung des Verlusts auf die Höhe der Steuer nicht in der Weise ausgewirkt, dass die Steuer auf 0 EUR festgesetzt worden ist, weil der Bescheid nach Eintritt der Bestandskraft nur noch im Umfang von § 351 Abs. 1 AO geändert werden konnte, ist ein verbleibender Verlustvortrag danach nicht festzustellen.
Keine Aussage zu Rücktragszeitraum
Die Erwägungen des BFH betreffen nur den ESt-Bescheid des Verlustentstehungszeitraums. Die Bindung...