Leitsatz
1. Art. 9 Abs. 2 Buchst. e sechster Gedankenstrich der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage ist dahin auszulegen, dass der in dieser Bestimmung verwendete Begriff "Gestellung von Personal" auch die Gestellung von selbstständigem, nicht beim leistenden Unternehmer abhängig beschäftigtem Personal umfasst.
2. Art. 17 Abs. 1, 2 Buchst. a und 3 Buchst. a sowie Art. 18 Abs. 1 Buchst. a der Sechsten Richtlinie 77/388 sind dahin auszulegen, dass sie den Mitgliedstaaten nicht vorschreiben, ihr nationales Verfahrensrecht so zu gestalten, dass die Steuerbarkeit und die Mehrwertsteuerpflicht einer Dienstleistung beim Leistungserbringer und beim Leistungsempfänger in kohärenter Weise beurteilt werden, auch wenn für sie verschiedene Finanzbehörden zuständig sind. Diese Bestimmungen verpflichten die Mitgliedstaaten jedoch, die zur Sicherstellung der korrekten Erhebung der Mehrwertsteuer und zur Wahrung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität erforderlichen Maßnahmen zu treffen.
Normenkette
Richtlinie 77/388/EWG Art. 9 Abs. 2 Buchst. e sechster Gedankenstrich (§ 3a Abs. 4 Nr. 7 UStG)
Sachverhalt
ADV vermittelte selbstständige – so der EuGH-Sachverhalt – Lkw-Fahrer an Speditionen u.a. im Ausland. Das FA war der Auffassung, es liege keine "Gestellung von Personal" vor. Das Bundesamt für Finanzen war wiederum anderer Auffassung.
Entscheidung
Die wesentlichen Grundsätze ergeben sich aus den Praxis-Hinweisen.
Hinweis
1. Leistungsort für die "Gestellung von Personal" ist der Ort, "an dem der Empfänger den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit oder eine feste Niederlassung hat, für welche die Dienstleistung erbracht worden ist, oder in Ermangelung eines solchen Sitzes oder einer solchen Niederlassung sein Wohnort oder sein üblicher Aufenthaltsort" (vgl. § 3a Abs. 4 Nr. 7 UStG).
2. Ob die "Gestellung von Personal" auch die Gestellung von selbstständigem, nicht beim leistenden Unternehmer abhängig beschäftigtem Personal umfasst, war nicht zweifelsfrei und ist jetzt vom EuGH bejaht worden. Diese Auslegung werde dem Zweck der Regelung in Art. 9 (§ 3a UStG), der Vermeidung von Doppel- oder Nichtbesteuerung, besser gerecht.
3.Im Besprechungsfall war die Beurteilung eines Umsatzes (Gestellung von Personal) beim Leistenden und beim Leistungsempfänger (im Besteuerungs- und im Vergütungsverfahren) widersprüchlich. Ob der Effektivitätsgrundsatz die Mitgliedstaaten verpflichtet, ihr nationales Verfahrensrecht so zu gestalten, dass auch bei Zuständigkeit verschiedener FÄ der Umsatz bei beiden Beteiligten in kohärenter Weise beurteilt wird, war eine Frage. Verfahrensrechtlich könnte dies durch eine Beiladung hergestellt werden. Nach ständiger Rechtsprechung des BFH liegen die Voraussetzungen für eine notwendige Beiladung aber nicht vor.
Das Unionsrecht gibt den Mitgliedstaaten kein Verfahrensrecht vor; es muss lediglich für unionsrechtliche Ansprüche derselbe Standard wie für nationalrechtliche Ansprüche gelten. Der Effizienzgrundsatz ist nur verletzt, wenn die Ausübung eines unionsrechtlichen Anspruchs unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert wird. Insoweit betont der EuGH, dass beide am Umsatz Beteiligten die Möglichkeit haben, die korrekte und einheitliche Auslegung und Anwendung gerichtlich geltend zu machen und dadurch den Gleichklang herzustellen. Der materiellrechtliche Gleichklang wird bei Zweifeln ggf. durch ein Vorabentscheidungsersuchen bewirkt.
Dass aber tatsächlich der Gleichklang nicht gelingt, z.B. wenn eine Nichtzulassungsbeschwerde nicht ausreichend begründet oder ein Rechtsmittel verspätet eingelegt worden ist, berührt den unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatz nicht.
Link zur Entscheidung
EuGH, Urteil vom 26. 1. 2012 C–218/10,