Leitsatz
Die Erstreckung der Grundrechtsberechtigung auf juristische Personen aus Mitgliedstaaten der EU stellt eine aufgrund des Anwendungsvorrangs der Grundfreiheiten im Binnenmarkt (Art. 26 Abs. 2 AEUV) und des allgemeinen Diskriminierungsverbots wegen der Staatsangehörigkeit (Art. 18 AEUV) vertraglich veranlasste Anwendungserweiterung des deutschen Grundrechtsschutzes dar.
Normenkette
Art. 19 Abs. 3, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, Art. 18, Art. 26 Abs. 2 AEUV
Sachverhalt
Die Beschwerdeführerin, eine juristische Person mit Sitz in Italien, rügte u.a. die Verletzung von Art 14 Abs. 1 GG durch ein Urteil des BGH in einem urheberrechtlichen Verfahren zwischen ihr und einer dritten Person.
Entscheidung
Das BVerfG entschied, dass der Beschwerdebefugnis nicht Art. 19 Abs. 3 GG nicht entgegenstehe, da jedenfalls eine Grundrechtsträgerschaft der Beschwerdeführerin möglich sei. Das Grundrecht aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG stehe der Beschwerdeführerin ohne Weiteres zu.
Hinweis
1. Immer häufiger fordern auch ausländische juristische Personen vor deutschen FG ihr Recht ein. Gelingt das auf "einfach-rechtlichem" Wege nicht, berufen sich solche juristische Personen u.U. auf grundgesetzliche Positionen, genauso wie vergleichbare Inlandsunternehmen auch. Abweichend von jenen Inlandsunternehmen gewährt Art. 19 Abs. 3 GG den Auslandsunternehmen aber keinen Grundrechtsschutz.
2. Mit dem Besprechungsbeschluss hat das BVerfG kürzlich eine beachtenswerte "Volte" geschlagen: Das Gericht ist letzten Endes zur Anerkennung einer unionsrechtswidrigen Grundrechtsnorm gelangt, indem es die in Art. 19 Abs. 3 GG enthaltene Beschränkung des Grundrechtsschutzes nur für inländische Kapitalgesellschaften dem Anwendungsvorrang des Unionsrechts unterwirft.
Entgegen dem klaren Wortlaut jener Vorschrift können fortan auch ausländische juristische Personen mit Sitz in EU-Mitgliedstaaten Träger materieller Grundrechte des GG sein. Veranlasst ist diese Anwendungserweiterung des deutschen Grundrechtsschutzes aufgrund der Grundfreiheiten im Binnenmarkt (Art. 26 Abs. 2 AEUV) und dem allgemeinen Diskriminierungsverbot wegen der Staatsangehörigkeit (Art. 18 AEUV).
An diesem Vorrang und Verbot nimmt nun auch Art. 19 Abs. 3 GG teil. Denn, so das BVerfG: "In den Jahren 1948/49 stand die Entwicklung eines gemeinsamen Europas noch am Anfang. Seitdem hat die EU zunehmend Gestalt angenommen und ist heute als hochintegrierter ‚Staatenverbund’ (…) ausgestaltet, an dem (…) Deutschland gem. Art. 23 Abs. 1 GG mitwirkt. Die Anwendungserweiterung von Art. 19 Abs. 3 GG nimmt diese Entwicklung auf." Und weiter: "Für einen gleichwertigen Schutz im Anwendungsbereich der unionsrechtlichen Diskriminierungsverbote reicht es (…) nicht aus, wenn ausländische juristische Personen zwar im fachgerichtlichen Verfahren auf eine materielle Gleichstellung mit inländischen juristischen Personen hinwirken, ihre Rechte aber gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG mangels Grundrechtsträgerschaft nicht auch mithilfe des BVerfG durchsetzen können."
3. Das BVerfG weicht damit von seiner bisherigen – und älteren – Spruchpraxis ebenso ab, wie von der dieser Spruchpraxis folgenden Judikatur des BFH (z.B. Urteil vom 24.1.2001, I R 81/99, BFH/NV 2001, 868, BFH/PR 2001, 213, BStBl II 2001, 290). Voraussetzung ist allein ein hinreichender Inlandsbezug der ausländischen juristischen Person, der die Geltung der Grundrechte in gleicher Weise wie für inländische juristische Personen geboten erscheinen lässt.
Konsequenz: Ausländische juristische Personen können, soweit es sich um solche aus EU- und EWR-Mitgliedstaaten handelt, ihre Grundrechte genauso einfordern wie vergleichbare inländische juristische Personen.
4. Zugleich bekennt sich das BVerfG zu der vielfach – und kritisch, weil in gewisser Weise kompetenzüberschreitenden – diskutierten sog. geltungserhaltenden Reduktion inländischen Rechts infolge des Anwendungsvorrangs von Unionsrecht: Die Anwendungserweiterung berücksichtigt, so das BVerfG, dass das supranationale Recht der EU keine rechtsvernichtende, derogierende Wirkung gegenüber dem mitgliedstaatlichen Recht entfaltet, sondern nur dessen Anwendung soweit zurückdrängt, wie es die Verträge erfordern und es die durch das Zustimmungsgesetz erteilten Rechtsanwendungsbefehle erlauben. Mitgliedstaatliches Recht wird insoweit lediglich unanwendbar. M. a. W.: Der Anwendungsvorrang verlangt keine totale Nichtanwendung des unionsrechtswidrigen Rechts, sondern nur dessen Teil-Modifikation und Teil-Verdrängung. Das wird vom BFH seit geraumer Zeit auch genauso praktiziert.
5. Von der Anwendungserweiterung unberührt bleibt (lediglich) die allein dem BVerfG aufgegebene Kontrolle des Gemeinschaftsrechts auf Erhaltung der Identität der nationalen Verfassung, auf Einhaltung der eingeräumten Kompetenzen und der Gewährleistung eines im Wesentlichen dem deutschen Grundrechtsschutz gleichkommenden Schutzniveaus. Die Anwendungserweiterung berührt offensichtlich nicht die Identität der Verfassung. Sie steht angesichts der deutlichen Z...