Rechtskräftig
Entscheidungsstichwort (Thema)
Analphabet. Arbeitslosengeld. ausländischer Arbeitnehmer. Bemessungsentgelt. (subjektiver) Fahrlässigkeitsbegriff. Fehler der Verwaltung. Interessenabwägung. Rücknahme des Verwaltungsaktes. Rückforderung von Leistungen. Verwaltungsakt (rechtswidriger, begünstigender). Vertrauensschutz
Leitsatz (amtlich)
1. Bei der Feststellung von „grober Fahrlässigkeit” ist die persönliche Urteils- und Kritikfähigkeit sowie das Einsichtsvermögen des Betroffenen nach den besonderen Umständen des Falles zu beurteilen („subjektiver Fahlässigkeitsbegriff” – Anschluss an BSGE 35, 108 ff., 112 BSGE 44, 264 ff., 267). Hierfür genügt es nicht, allein von einem „objektiven” Maßstab nach Maßgabe eines von einem „durchschnittlichen” Leistungsempfänger zu erwartenden Verhalten auszugehen (Anschluss an BSG, Urteile vom 27. Juli 2000 – B 7 AL 88/99 R – = SozR 3-1300 § 45 Nr. 42 u. vom 8. Februar 2001 – B 11 AL 21/00 R – = SozR 3-1300 § 45 Nr. 45).
2. Bei Migrantinnen und Migranten der „ersten Generation”, welche die für diese Generation typischen Wissensdefizite aufweisen, ist der Vorwurf der „groben Fahrlässigkeit” in Bezug auf die Kenntnis eines fehlerhaften Leistungsbescheides davon abhängig, dass die Fehlerhaftikeit nach Übersetzung und Erläuterung des Bescheides durch eine entsprechend kundige Person ihres Vertrauens als offenkundig hätte erkannt werden können und müssen.
3. Zur Klärung des Vorwurfs der „groben Fahrlässigkeit” bedarf es bei solchen Migrantinnen und Migranten im sozialgerichtlichen Verfahren grundsätzlich immer der persönlichen Anhörung unter Hinzuziehung eines sprachlich qualifizierten und kultursensiblen Dolmetschers.
Normenkette
SGB X §§ 24, 43, 45 Abs. 1, 2 Sätze 2, 3 Nr. 3, Abs. 4, § 48; SGG §§ 54, 77; BHO §§ 7, 105; AFG §§ 111-112, 131, 152 Abs. 2, § 219; SGB III §§ 77a, 312
Beteiligte
Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg |
Präsidenten des Landesarbeitsamtes Hessen |
Verfahrensgang
SG Kassel (Urteil vom 12.01.1999; Aktenzeichen S 5 AL 1674/97) |
Tenor
I. Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 12. Januar 1999 und der Bescheid der Beklagten vom 28. Februar 1997 m der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. November 1997 aufgehoben.
II. Die Beklagte hat dem Kläger die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen außergerichtlichen Kosten beider Instanzen zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist die teilweise Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosengeld (Alg) wegen Überzahlung aufgrund eines falsch berechneten Bemessungsentgeltes und die Rückforderung von zu viel gezahltem Arbeitslosengeld in Höhe von 34.096,90 DM.
Der am 15. Juni 1939 geborene Kläger ist türkischer Staatsbürger und lebt und arbeitet seit Oktober 1965 in der Bundesrepublik Deutschland. Er ist im Besitz einer Aufenthaltsberechtigung. Vom 2. Mai 1975 bis 31. März 1994 war er als Montagearbeiter bei der Firma M. B. AG im Werk K. beschäftigt. Ab Oktober 1993 bezog er dort neben seinem Bruttoverdienst (der bis zu seinem Ausscheiden im März 1994 zwischen 2.612,79 DM/Monat und 6.419,78 DM/Monat schwankte) zusätzlich noch Kurzarbeitergeld (Kug) in Höhe von jeweils zwischen 548,85 DM/Monat und 776,95 DM/Monat (vgl. Bl. 41 der Gerichtsakte).
Das Arbeitsverhältnis des Klägers wurde mit Schreiben der Arbeitgeberin vom 3. August 1993 ordentlich zum 31. März 1994 gekündigt. Der Betriebsrat widersprach (Stellungnahme vom 3. August 1993) aus sozialen und altersbedingten Gründen (Vollendung des 54. Lebensjahres). Der Kläger erhob Kündigungsschutzklage und schloss in der mündlichen Verhandlung vor dem Arbeitsgericht Kassel am 25. Januar 1994 einen Vergleich, wonach es bei der Beendigung des Arbeitsverhältnisses aus betriebsbedingten Gründen zum 31. März 1994 verbleiben sollte, dem Kläger aber eine Abfindung gem. §§ 9, 10 des Kündigungsschutzgesetzes und § 3 Ziff. 9 des Einkommensteuergesetzes in Höhe von 55.000,00 DM gezahlt wurde.
Der Kläger meldete sich am 7. März 1994 zum 1. April 1994 arbeitslos und beantragte Alg. Die von der Arbeitgeberin vorgelegte Arbeitsbescheinigung (§ 133 Arbeitsförderungsgesetz – AFG –) enthielt wegen des vorhergehenden Bezuges von Kug auch das „Zusatzblatt (Kug) zur Arbeitsbescheinigung”, worin die Arbeitgeberin die zuletzt seit September 1993 bezogenen Bruttoarbeitsentgelte einschließlich des Kug bescheinigte. Für die abgerechneten Zeiträume vom 1. September 1993 bis 28. Februar 1994 wurden insgesamt 128 bezahlte bzw. ausgefallene Arbeitstage und Bruttoarbeitsentgelte in Höhe von insgesamt 25.931,57 DM bescheinigt, die in insgesamt 921,6 bezahlten bzw. ausgefallenen Arbeitsstunden erzielt worden waren. Bei der handschriftlichen Addition der Zahl der (bezahlten bzw. ausgefallenen) Arbeitsstunden ist die „9” (in 921,60) etwas undeutlich geschrieben worden.
In das Formblatt (Alg-Bewilligungsverfügung/Kassenanweisung – „1 ALG”) des Beklagten wurde im Arbeitsamt K. Abschnitt „D” in das Kästchen „Arbeitsstunden” die Zahl 521,6...