Jürgen Berners, Dipl.-Finanzwirt Werner Becker
In HHG 8/2017 wurden die durch das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren v. 24.11.2011 (BGBl 2011 I, S. 2302) mit Wirkung vom 3.12.2011 eingeführten Regelungen zur angemessenen Entschädigung von Nachteilen, die ein Verfahrensbeteiligter infolge einer unangemessenen Dauer eines Gerichtsverfahrens erleidet, aufgezeigt und näher beleuchtet. Darüber hinaus wurde die bislang zu dieser Thematik ergangene Rechtsprechung des X. Senats des BFH vorgestellt, der nach dem Geschäftsverteilungsplan beim BFH für Streitigkeiten (einschließlich Kostenstreitigkeiten) betreffend die Entschädigung gem. §§ 198 ff. GVG, § 155 FGO zuständig ist, soweit nicht die Dauer eines Verfahrens des eigenen Senats betroffen ist.
Der X. Senat des BFH hat nunmehr seine bisherige Rechtsprechung zu der in Rede stehenden Problematik präzisiert (vgl. BFH, Urteil v. 12.7.2017, X K 3-7/16, BStBl 2018 II, S. 103). Dabei ging es im Einzelnen um Folgendes:
Kläger forderten angemessene in das Ermessen des Gerichts gestellte Entschädigung
Die Kläger (Eheleute) begehrten Entschädigung wegen unangemessener Dauer mehrerer seit März 2013 anhängiger Klageverfahren nach § 198 GVG. Die Klageverfahren betrafen z. T. nur den Kläger bzw. die Klägerin und z. T. beide Eheleute.
Nachdem im Verfahren wegen Umsatzsteuer 2001 und 2002 des Klägers der Schriftsatzwechsel am 22.4.2013 endete, erhob dieser am 20.3.2016 eine Verzögerungsrüge, woraufhin der Rechtsstreit durch eine tatsächliche Verständigung im Juni 2016 erledigt wurde und mit dem Kostenfestsetzungsbeschluss des FG vom 14.7.2016 endete.
Die übrigen Verfahren betrafen die
- Einkommensteuer 1999 sowohl des Klägers als auch der Klägerin (besondere Veranlagungen nach § 26c EStG im Jahr der Eheschließung),
- Einkommensteuer 2000 bis 2004 der zusammenveranlagten Eheleute,
- Feststellung des vortragsfähigen Gewerbeverlusts zum 31.12.2000 und 2001 der Ehefrau.
In diesen Verfahren endete der Wechsel der vorbereitenden Schriftsätze im Juli 2013. Die Kläger erhoben auch hinsichtlich dieser Verfahren am 20.3.2016 Verzögerungsrügen. Die Verfahren wurden durch am 18.5.2016 zugestellte Urteile des FG abgeschlossen.
Am 9.11.2016 reichten die Kläger beim BFH insgesamt 5 Entschädigungsklagen ein, die am 4.1.2017 dem Finanzamt zugestellt wurden. Sie begehrten eine angemessene in das Ermessen des Gerichts gestellte Entschädigung in Geld, mindestens aber jeweils 600 EUR pro Verfahren – im Verfahren wegen Einkommensteuer 2000 bis 2004 mindestens jeweils 600 EUR pro Kläger – nebst Zinsen, da die bis zum Eingang der Verfahrensrügen am 20.3.2016 unbearbeitet gebliebenen Verfahren jeweils um mindestens 12 Monate verzögert worden seien.
Entschädigungsklagen ausnahmslos zulässig
Der BFH hat die Verfahren zunächst aus prozessökonomischen Gründen nach § 73 Abs. 1 Satz 1 FGO zu gemeinsamer Entscheidung verbunden.
Dann stellt er fest, dass die Klagefrist (auch) für die Entschädigungsklagen gewahrt ist, soweit es um die von den Klägern geltend gemachten Verzögerungen in den ertragsteuerlichen Ausgangsverfahren geht. In diesen Verfahren seien die Urteile am 20.6.2016 (Montag) rechtskräftig geworden. Die 6-Monats-Frist zur Erhebung der Entschädigungsklagen (§ 198 Abs. 5 Satz 2 GVG) habe daher am 20.12.2016 geendet. Auch für diese Entschädigungsklagen sei die Frist gewahrt, obwohl sie dem Finanzamt erst am 4.1.2017 – und damit nach Ablauf der 6-Monats-Frist – zugestellt worden seien. § 66 Satz 2 FGO, der durch das Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit und des Gerichtskostengesetzes v. 11.10.2016 (BGBl 2016 I, S. 2222) in § 66 FGO angefügt worden sei, bestimme zwar, dass in Verfahren nach dem 17. Teil des GVG die Streitsache auch vor dem BFH erst mit Zustellung der Entschädigungsklage bei der Finanzbehörde rechtshängig wird, jedoch knüpfe § 198 Abs. 5 Satz 2 GVG für die Wahrung der Klagefrist nicht an den Eintritt der Rechtshängigkeit, sondern bereits an den Zeitpunkt der "Klageerhebung" an. Für die Klageerhebung werde in § 64 Abs. 1 FGO aber – durch das Gesetz v. 11.10.2016 unverändert – auf den Zeitpunkt der schriftlichen Einreichung der Klage bei Gericht abgestellt.
Ferner stehe der Umstand, dass die Kläger ihren Zahlungsantrag nur in Höhe eines Mindestbetrags beziffert hätten, der hinreichenden Bestimmung des Klageantrags und damit der Zulässigkeit der Klage nicht entgegen.
Klage mit gestellten Anträgen in vollem Umfang begründet
Der BFH entscheidet in der Sache selbst, dass die Dauer der vorliegenden Ausgangsverfahren, deren Schwierigkeitsgrad als durchschnittlich anzusehen war, unangemessen war. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer sei regelmäßig zu vermuten, wenn das Gericht gut 2 Jahre nach dem Eingang der Klage mit Maßnahmen beginne, die das Verfahren einer Entscheidung zuführen sollen. Demnach hätte das Gericht die Verfahren ab April 2015 wieder aufgreifen und durch kontinuierliches Tätigwerden zur Entscheidung führen müsse...