Dipl.-Finanzwirt Werner Becker, Dr. Andreas Nagel
In Honorargestaltung 1/2020 hatten wir darauf hingewiesen, dass beim BFH das Revisionsverfahren VIII R 30/17 zu der höchstrichterlich noch nicht geklärten Rechtsfrage anhängig sei, ob eine schlichte Änderung nach Ergehen einer Einspruchsentscheidung nur erfolgen dürfe, wenn mit dem Änderungsantrag nicht erneut Tatsachen und Rechtsfragen geltend gemacht würden, über die in der Einspruchsentscheidung bereits entschieden worden sei.
Die Entscheidung des BFH hat nicht lange auf sich warten lassen: Die Münchner Richter haben ein für die Beratungspraxis erfreuliches Urteil gefällt und entschieden, dass ein nach Ergehen der Einspruchsentscheidung und innerhalb der Klagefrist gestellter Antrag auf schlichte Änderung gem. § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a, Satz 2 und Satz 3 Halbsatz 1 AO auch dann zulässig ist, wenn mit ihm lediglich die erneute Überprüfung einer Rechtsfrage begehrt wird, über die in der Einspruchsentscheidung bereits entschieden worden ist (BFH, Urteil v. 27.10.2020, VIII R 30/17, BFH/NV 2021, S. 816).
Finanzgerichtliche Rechtsprechung der Vergangenheit
Der BFH hatte in einem früheren Verfahren die Auffassung vertreten, dass Tat- und Rechtsfragen, über die in der Einspruchsentscheidung bereits entschieden worden ist, im Regelfall nicht in einem Änderungsverfahren nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AO erneut geprüft werden können (BFH, Beschluss v. 5.2.2010, VIII B 139/08, BFH/NV 2010, S. 308). Allerdings hatte er diese Rechtsansicht (nur) in einem Beschwerdeverfahren wegen Nichtzulassung der Revision vertreten und überdies entschieden, dass der dortige Kläger hinsichtlich des im erstinstanzlichen Verfahren verfolgten Hauptantrags schon keine entscheidungserhebliche Rechtsfrage formuliert habe, wie sie die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung voraussetze.
Keine gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung
Eine gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung zu der in Rede stehenden Problematik lag m. E. somit bis dato nicht vor.
In dem nunmehr entschiedenen Verfahren hatten sich sowohl das Finanzamt als auch die Vorinstanz auf den v. g. Beschluss und die überwiegende Ansicht der Instanzengerichte berufen, dass aufgrund einer teleologischen Reduktion der Vorschrift ein Änderungsantrag nach Ergehen der Einspruchsentscheidung unzulässig sei, wenn mit ihm lediglich die Überprüfung der vom Finanzamt der Einspruchsentscheidung zu Grunde gelegten Rechtsauffassung begehrt wird und keine neuen Tatsachen vorgetragen werden.
BFH hält an früherer Rechtsauffassung nicht fest
Der BFH begründet seine (abweichende) Rechtsauffassung damit, dass die teleologische Reduktion einer Norm grundsätzlich nur in Betracht komme, wenn die Auslegung der Vorschrift nach dem Wortlaut zu einem sinnwidrigen Ergebnis führen würde. Dies sei vorliegend nicht der Fall. Die Überprüfung von Tat- und Rechtsfragen, über die in einer Einspruchsentscheidung bereits entschieden worden sei, mittels eines Änderungsantrags nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AO sei nicht sinnwidrig und entspreche der ausdrücklichen Anordnung des Gesetzgebers. Dies gelte auch dann, wenn es nach § 351 Abs. 1 Halbsatz 2 AO auf das Vorliegen der Voraussetzungen des § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AO bei der Anfechtung eines Änderungsbescheids ankomme.
Der BFH begründet seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt:
- Nach dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift erfolge die Korrektur nach § 172 Abs. 1 Satz 1 AO auch dann, wenn der Steuerbescheid durch eine Einspruchsentscheidung bestätigt oder geändert worden sei. Das Gesetz sehe, neben der Stellung des Antrags innerhalb der Klagefrist, keine weiteren Zulässigkeitsvoraussetzungen für den schlichten Änderungsantrag vor.
- Aus dem Willen des Gesetzgebers ergebe sich keine einschränkende Auslegung der Norm. Zwar habe der Gesetzgeber bei der Einführung des § 172 Abs. 1 Satz 3 AO konkrete Sachverhalte vor Augen, die erfasst werden sollten. Insbesondere in Schätzungsfällen, in denen die Steuererklärung erst nach Ergehen der Einspruchsentscheidung eingereicht werde, sollte der Antrag auf schlichte Änderung nach Erlass der Einspruchsentscheidung dazu führen, die FG zu entlasten. Mit der Verwendung des Worts "insbesondere" bringe der Gesetzgeber jedoch zum Ausdruck, dass neben dem in der Gesetzesbegründung genannten Beispiel auch andere Anwendungsfälle denkbar seien. Gegen eine Beschränkung der Norm auf den in der Gesetzesbegründung ausdrücklich genannten Fall spreche zudem, dass eine solche Beschränkung des Antragsrechts im Wortlaut der Norm keinen Niederschlag gefunden habe.
- Auch aus dem systematischen Zusammenhang zu § 348 Nr. 1 AO ergebe sich keine Einschränkung der Zulässigkeit des Antrags auf schlichte Änderung nach einem durchgeführten Einspruchsverfahren. Nach § 348 Nr. 1 AO sei gegen die Einspruchsentscheidung ein weiterer Einspruch nicht statthaft. Das Verwaltungsverfahren werde damit durch die Einspruchsentscheidung beendet. Eine Fortführung sei nur im Klageweg vor dem FG möglich. Der Antrag a...