Dr. Andreas Nagel, Dipl.-Finanzwirt Werner Becker
Frage:
In Honorargestaltung 4/2021 wurde unter Hinweis auf eine Entscheidung des FG Hamburg (Beschluss v. 1.2.2021, 4 K 136/20, EFG 2021, S. 386) aufgezeigt, dass auch in Zeiten der Corona-Pandemie die Möglichkeit gegeben sein muss, Einsicht in die dem Gericht vorgelegten Akten zu nehmen. Da die Gerichte nach dem Willen der politisch Verantwortlichen ihrer verfassungsrechtlichen Aufgabe der effektiven Rechtsschutzgewährleistung auch in Zeiten der Pandemie gerecht werden müssten, könne die Akteneinsicht (auch) durch Übersendung der Akten in die Kanzleiräume des Steuerberaters realisiert werden.
Dem Vernehmen nach sollen zwischenzeitlich weitere, einschränkende Entscheidungen zur Akteneinsicht im finanzgerichtlichen Verfahren in Pandemiezeiten ergangen sein. Könnten Sie die Thematik nochmals besprechen?
Antwort:
Meine Recherche hat ergeben, dass das FG Hamburg sich erneut mit der in Rede stehenden Problematik befasst hat. Zudem hat der BFH in einer noch nicht amtlich veröffentlichten Entscheidung zur Frage des Orts der Akteneinsicht im finanzgerichtlichen Verfahren in Pandemiezeiten Stellung bezogen. Ganz aktuell hat auch das Niedersächsische FG zur Akteneinsicht im finanzgerichtlichen Verfahren in Pandemiezeiten entschieden.
Infektionslage von Bedeutung
In dem der aktuellen Entscheidung des FG Hamburg (Beschluss v. 18.5.2021, 1 K 175/20) zugrunde liegenden Sachverhalt beantragte der Prozessbevollmächtigte des Klägers im Rahmen seiner Klagebegründung v. 5.8.2020 Akteneinsicht und bat um eine 2-tägige Überlassung der Akten zur Durchsicht in seinen Kanzleiräumen. Da er selbst zu der vom Robert-Koch-Institut benannten Risikogruppe gehöre, sei ihm eine Akteneinsicht in den Diensträumen des FG nicht möglich und zumutbar.
Das FG Hamburg hat die begehrte Akteneinsicht zwar gewährt, jedoch unter der Maßgabe, dass diese in den Diensträumen i. S. d. § 78 Abs. 3 Satz 1 FGO, etwa der Geschäftsstelle des Gerichts, zu erfolgen habe.
Der Prozessbevollmächtigte erschien nach vorheriger Terminabsprache zur Akteneinsicht im FG Hamburg. Nachdem er es, trotz mehrfacher Ermahnung durch Mitarbeiter der Geschäftsstelle, nicht unterließ, einzelne Blätter aus der Akte auszuheften, offenbar um diese mit dem Handy vollständig fotografieren zu können, wurde die Akteneinsicht abgebrochen und der Prozessbevollmächtigte aus den Räumlichkeiten des FG verwiesen.
In der Folge erneuerte der Prozessbevollmächtigte mehrfach seinen Akteneinsichtsantrag und beantragte die Übersendung der Originalfinanzamtsakten bzw. einer vollständigen Kopie an seine Kanzleiräume. Zudem verlangte er die Bereitstellung des Akteninhalts zum Abruf.
Das FG hat den Antrag auf Übersendung der vollständigen Akten im Original oder in Kopie in die Kanzleiräume des Prozessbevollmächtigten bzw. die Bereitstellung des Inhalts sämtlicher Akten auf Abruf als unbegründet abgelehnt.
Das FG hat bei seiner Entscheidung u. a. berücksichtigt, dass die Akten, in die Einsicht genommen werden soll, nicht außergewöhnlich umfangreich oder unübersichtlich sind. Dabei dürften die dem Prozessbevollmächtigten bislang unbekannten Aktenbestandteile nur einen geringen Anteil der vorliegenden Akten ausmachen, da die Gerichtsakte und die Rechtsbehelfsakte jeweils vornehmlich aus seiner Korrespondenz mit dem Finanzamt bzw. dem Gericht besteht. In Anbetracht dieser Umstände sei es dem Prozessbevollmächtigten – so das FG – ohne Weiteres möglich, sich innerhalb eines angemessenen Zeitraums über den Akteninhalt in den Diensträumen des FG oder anderen Diensträumen zu informieren.
Zudem sei nicht zu vernachlässigen, dass der Prozessbevollmächtigte im Rahmen seiner (abgebrochenen) Akteneinsicht Aktenbestandteile aus der Akte herausgelöst habe und dieses Verhalten trotz mehrfacher Hinweise bis zu seinem Verweis aus dem Gebäude nicht abgestellt habe. Es bestehe daher die begründete Vermutung, dass der Prozessbevollmächtigte bei Überlassung der Akte ohne jede Kontrollmöglichkeiten erneut einzelne Bestandteile der Akte ausheften werde und damit die Gefahr des Verlusts oder der Beschädigung einzelner Aktenbestandteile nicht ausgeschlossen werden könne.
Vorliegend bestehe auch nicht aufgrund der aktuellen Pandemielage und den in Hamburg stetig absinkenden Infektionszahlen ein Ausnahmefall, der zwingend eine Akteneinsicht in den Kanzleiräumen des Prozessbevollmächtigten gebiete. Das Gericht habe ausreichend Vorkehrungen getroffen, um eine Akteneinsicht auch unter den aktuellen Vorzeichen der Corona-Pandemie sicher in den Diensträumen durchführen zu können.
Für die Praxis bedeutende Hinweise beachten
Das FG hat in seiner Entscheidung zusätzlich zwei für die Praxis bedeutsame Hinweise gegeben.
Zum einen habe der Entscheidung v. 1.2.2021, a. a. O., ein in wesentlichen, entscheidungserheblichen Aspekten anderer Sachverhalt zugrunde gelegen. Denn aufgrund der gegenüber dem Entscheidungszeitpunkt der v. g. Entscheidung erheblich verbesserten Infektionslage sei eine Akteneinsicht in den Diensträumen des FG Hamburg wieder möglic...