Rz. 12
Abs. 1 Satz 1 regelt die Bewertung von beitragsfreien Zeiten i. S. v. § 54 Abs. 4 und legt damit das die ganze Vorschrift prägende Prinzip der Gesamtleistungsbewertung fest, dass auch für die beitragsgeminderten Zeiten nach Abs. 2 gilt und für dessen Berücksichtigung Abs. 3 die entsprechenden Berechnungskriterien vorgibt. Inhalt des Prinzips der Gesamtleistungsbewertung ist die rentenwerterhöhende Bewertung auch solcher Zeiten, für die keine Beiträge entrichtet worden sind. Die Gesamtleistungsbewertung bestimmt die Rentenhöhe aus den beitragsfreien Zeiten (= Ersatzzeiten, Anrechnungszeiten und die Zurechnungszeit). Der Gesetzgeber flankiert damit das bereits in § 63 Abs. 1 niedergelegte Lebensleistungsprinzip bzw. Äquivalenzprinzip auch durch ergänzende Elemente des sozialen Ausgleichs. Sinn und Zweck der Gesamtleistungsbewertung ist es – wie bereits im Grundsatz in § 63 Abs. 3 niedergelegt –, für bestimmte – gesellschaftlich förderungsfähige und förderungswürdige – Zeiten, in den der Betroffene aber keine Beiträge für die gesetzliche Rentenversicherung erwirtschaftet hat bzw. nicht erwirtschaften konnte, auszugleichen; die Berücksichtigung solcher beitragsfreier Zeiten dient daher dem sozialen Ausgleich und stellt eine Abweichung des Kernprinzips der Honorierung der Lebensleistung über die Rentenhöhe nach Abs. 1 dar.
Rz. 13
Allerdings ist die Bewertung nicht vollständig losgelöst von der eigenen Versicherungsbiografie. Die Bewertung der beitragsfreien Zeiten orientiert sich nach Abs. 1 Satz 1 an der individuellen Beitragsleistung des einzelnen Versicherten während seines gesamten Versicherungslebens; woher auch letztlich die Bezeichnung "Gesamtleistungsbewertung" herrührt. Dabei ist neben der Höhe der Beiträge auch die Beitragsdichte, nämlich die tatsächliche Anzahl an Beitragsmonaten im Vergleich zur möglichen Anzahl an Beitragsmonaten in einem belegungsfähigen Zeitraum (§ 72 Abs. 2) von Bedeutung (GRA der DRV zu § 71 SGB VI,Stand: 20.12.2019, Anm. 2.1; vgl. insoweit bereits die Komm. zu § 70).
Rz. 14
Satz 1 ordnet insoweit an, als beitragsfreie Zeiten den Durchschnittswert an Entgeltpunkten erhalten, der sich aus der Gesamtleistung an Beiträgen im belegungsfähigen Zeitraum ergibt.
Rz. 15
Der Begriff der beitragsfreien Zeit nach Abs. 1 ist dabei identisch auszulegen wie in dem auf § 71 aufbauenden § 72. Da beide Vorschriften keine eigene Definition des Begriffs "beitragsfreie Zeiten" enthalten, ist für die Definition des Begriffs beitragsfreie Zeit auf § 54 Abs. 4 zurückzugreifen (BSG, Beschluss v. 25.11.2008, B 5 KN 1/07 R, Rz. 20).
Rz. 16
Beitragsfreie Zeiten i. S. v. § 54 Abs. 4 sind
- Anrechnungszeiten (§§ 58, 252, 252a),
- pauschalen Anrechnungszeit (§ 253) – kaum noch von praktischer Bedeutung,
- Zurechnungszeit (reicht ab 1.7.2014 bis zum 62. und nicht mehr nur bis zum 60. Lebensjahr, § 59 i. d. F. des RV-Leistungsgesetzes, § 253a wurde ab 1.7.2014 aufgehoben),
- Ersatzzeiten (§§ 250, 251) – kaum noch von praktischer Bedeutung.
Grundlage hierfür ist die Summe aller Entgeltpunkte aus Beitrags- und Berücksichtigungszeiten im belegungsfähigen Zeitraum (vgl. § 72 Abs. 2).
Rz. 17
Bei der innerstaatlichen Berechnung der Rente bzw. der Rentenhöhe nach dem europäischen Koordinierungsrecht nach der EGV 883/2004 für beitragsfreie Zeiten (Gesamtleistungsbewertung nach §§ 71 ff.) entfallen auf die in anderen Mitgliedstaaten zurückgelegten Zeiten keine Beiträge (§ 71 Abs. 1 Satz 1); sie sind infolgedessen versicherungsrechtliche Lücken und mindern als solche den Gesamtleistungswert; vgl. Art. 57 EGV 883/2004 (BSG, Beschluss v. 17.4.2012, B 13 R 347/11 B, Rz. 12; Bokeloh, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 3. Aufl., Art. 57 VO (EG) 883/2004, Stand: 15.3.2018, Rz. 15).
Rz. 18
Der belegungsfähige Zeitraum wird definiert in § 72 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 2 und ist nach § 72 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 die Zeit zwischen dem vollendeten 17. Lebensjahr und dem Eintritt des Versicherungsfalles bzw. der Rente. Maßgeblich insoweit ist der Beginn der zu berechnenden Rente. Dabei markiert das Ende des Zeitraums der Rentenzahlbeginn i. S. d. § 99 (BSG, Urteil v. 25.11.2008, B 5 RJ 15/04 R). Es kommt daher nicht auf die Entstehung des Stammrechts an (so aber noch die ältere Rechtsprechung des BSG, die insoweit obsolet ist; BSG, Urteil v. 18.10.2005, B 4 RA 43/03 R; BSG, Urteil v. 9.12.1997, 8 RKn 8/96; BSG, Urteil v. 24.7.2001, B 4 RA 45/99 R; vgl. weitergehend auch GRA der DRV zu § 72 SGB VI, Stand: 20.7.2015, Anm. 3; vgl. auch die Komm. zu § 72).