Rz. 7
Im Gegensatz zum gerichtlichen Verfahren ist das Verwaltungsverfahren vom Grundsatz der Nichtförmlichkeit bestimmt. Bei der Bestimmung von Art und Umfang ihrer Ermittlungen (vgl. Abs. 1 Satz 2 HS 1), die sich ausschließlich nach dem Verfahrensgegenstand richten, ist die Behörde frei. Dies ergibt sich aus dem Grundsatz der Amtsermittlung. Die Behörde kann sich jeder für erforderlich gehaltenen Erkenntnisquelle bedienen, ohne dabei an eine bestimmte Reihenfolge gebunden zu sein. Sie hat im Rahmen der Untersuchungspflicht den wesentlichen entscheidungserheblichen Sachverhalt nach pflichtgemäßem Ermessen zu erforschen und überflüssige Ermittlungen zu unterlassen; die Sachaufklärung muss erschöpfend sein und alle sich anschließenden Möglichkeiten einschließen. Sowohl die Klärung von Tatsachen als auch von rechtlichen Vorfragen kann für die Entscheidung erheblich sein. Ermittlungen können dabei nicht nur für die materiellrechtliche Entscheidung, sondern auch für Verfahrensentscheidungen notwendig werden. Die Behörde hat alle für den Einzelfall bedeutsamen, auch die für die Beteiligten günstigen Umstände zu berücksichtigen (Abs. 2), d. h. in die rechtliche Wertung mit einzubeziehen. Günstig sind alle Umstände, die eine Stütze für die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung sein können. Die Behörde darf von Ermittlungen nur absehen, wenn es auf die ungeklärte Tatsache nicht ankommt, wenn sie als wahr unterstellt werden kann, ohne dass sich an der rechtlichen Bewertung etwas ändert, wenn die behauptete Tatsache oder ihr Fehlen bereits erwiesen oder die Beweiserhebung wegen Offenkundigkeit überflüssig ist, das in Aussicht genommene Beweismittel völlig ungeeignet ist oder wenn es trotz aller Anstrengungen unerreichbar ist (BSG, Beschluss v. 16.5.2009, B 11b AS 37/06 B; BSG, Beschluss v. 7.4.2011, B 9 SB 47/10 B; BSG, Urteil v. 19.10.2011, B 13 R 33/11 R). Erst dann darf die Behörde ein Verwaltungsverfahren durch einen Verwaltungsakt abschließen, wenn die Sach- und Rechtslage vollständig geklärt ist (BSG, Urteil v. 28.11.1990, 4 RLw 5/90, SozR 3-1300 § 32 Nr. 4). Der Erlass eines endgültigen Bescheides trotz erst künftig ermittelbar, allenfalls prospektiv schätzbarer Umstände ohne rechtliche Schätzungsbefugnis statt eines vorläufigen Bescheides ist von Anfang an rechtswidrig (BSG, Urteil v. 2.6.2004, B 7 AL 58/03 R, BSGE 93 S. 51, SozR 4-4100 § 115 Nr. 1).
Rz. 8
Die Aufklärung des Sachverhalts muss erschöpfend sein. Maßstab für die notwendigen Ermittlungen sind regelmäßig die Tatbestandsvoraussetzungen der einschlägigen Rechtsnormen. Bei unbestimmten Rechtsbegriffen sind alle Tatsachen zu ermitteln, die zur Ausfüllung des unbestimmten Rechtsbegriffs notwendig sind. Dabei sind Sozialleistungsträger aufgrund von § 17 Abs. 1 Nr. 1 SGB I verpflichtet, umfassend zu prüfen, welche Leistungen sie bei dem ihnen unterbreiteten Sachverhalt nach materiellem Recht zu erbringen haben; ein gestellter Antrag ist deshalb grundsätzlich auf alle Ansprüche zu beziehen, die nach dem vorgetragenen Lebenssachverhalt sinnvoller Gegenstand des Leistungsbegehrens sein können (BSG, Urteil v. 5.10.2005, B 5 RJ 6/05 R, SozR 4-2600 § 43 Nr. 5; BSG, Urteil v. 4.4.2006, B 1 KR 5/05R, BSGE 96 S. 161, SozR 4-2500 § 13 Nr. 8). Für Umfang und Intensität behördlicher Ermittlungen gilt nach herrschender Meinung grundsätzlich:
- Je schwerwiegender die Rechtsfolgen aus einem Verwaltungsverfahren für den oder die Beteiligten sein können, umso intensiver ist der Sachverhalt aufzuklären.
- Je umstrittener der Sachverhalt, umso gründlicher sind die entscheidungserheblichen Tatsachen aufzuklären.
Wenn die Behörde das Vorbringen und die Beweismittel der Beteiligten für zutreffend und erschöpfend hält, kann sie sich damit begnügen. Falls sie jedoch von ihrer Wahrheit und Vollständigkeit nicht überzeugt ist, kann und muss sie selbst weiterermitteln.
Die Sachaufklärungspflicht von Amts wegen erfordert nicht, nach Tatsachen zu forschen, für deren Bestehen die Umstände des Einzelfalls keine Anhaltspunkte bieten; d. h. Ermittlungen "ins Blaue" sind grundsätzlich nicht geboten (BSG, Urteil v. 17.12.1997,11 RAr 61/97, BSGE 81 S. 259, SozR 3-4100 § 128 Nr. 5; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 19.3.2014, L 31 AS 3018/13 B). Begehrt ein Leistungsberechtigter die Überprüfung sämtlicher bestandskräftiger Bescheide auf ihre Rechtmäßigkeit, fehlt es an einer inhaltlichen Prüfungsverpflichtung des Leistungsträgers, wenn dieser den Einzelfall, der zur Überprüfung gestellt werden soll, objektiv nicht ermitteln kann (BSG, Urteil v. 28.10.2014, B 14 AS 39/13 R, SozR 4-1300 § 44 Nr. 31). Auf Verlangen des Versicherungsträgers hat das zuständige Versicherungsamt den Sachverhalt aufzuklären, Beweismittel beizufügen und sich ggf. zu den entscheidungserheblichen Tatsachen zu äußern (§ 93 Abs. 2 Satz 2 SGB IV).