Rz. 3
Durch § 24 wurde der im gerichtlichen Verfahren geltende Grundsatz des rechtlichen Gehörs (vgl. Art. 103 GG, § 128 SGG) in das Verwaltungsverfahren übertragen. Das Anhörungsrecht basiert auf dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) und dem Recht auf ein faires Verfahren. Auch außerhalb des Anwendungsbereichs des Art. 103 Abs. 1 GG darf der Einzelne nicht zum bloßen Objekt behördlicher Entscheidung werden; ihm muss insbesondere die Möglichkeit gegeben werden, vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort zu kommen, um Einfluss auf das Verfahren und dessen Ergebnis nehmen zu können (BVerfG, Beschluss v. 18.1.2000,1 BvR 321/96, BVerfGE 101 S. 397). Der Anhörungspflicht nach Abs. 1 unterliegen vor allem Bescheide, die Sozialleistungen entziehen, umwandeln oder herabsetzen, insbesondere Geldleistungen einstellen oder mindern sowie erbrachte Leistungen zurückfordern; aber auch im Falle von Eingriffen nach §§ 48, 51, 52 SGB I sind Anhörungen erforderlich.
Rz. 4
Das Recht auf Anhörung ist das wichtigste Recht des Beteiligten im Verwaltungsverfahren. Dadurch sollen die verfahrensrechtliche Stellung der Beteiligten gestärkt und ihr Vertrauen zu den Behörden und Leistungsträgern verbessert werden. Der Bürger soll vor Überraschungsentscheidungen sowie vorschnellen Entscheidung geschützt werden und das Vertrauensverhältnis zwischen Bürger und Behörde soll gestärkt werden. Außerdem dient die Vorschrift der Herstellung von Transparenz und eröffnet dem Beteiligten die Gelegenheit, durch sein Vorbringen zum entscheidungserheblichen Sachverhalt die bevorstehende Verwaltungsentscheidung zu beeinflussen (BSG, Urteil v. 9.11.2010, B 4 AS 37/09 R, SozR 4-1300 § 41 Nr. 2).
Rz. 4a
Die Anhörung hat vor Erlass eines Verwaltungsaktes, der in Rechte des Beteiligten eingreift, zu erfolgen. Die Anhörungspflicht bezieht sich auf Verwaltungsakte gemäß § 31 (vgl. Komm. dort). Die Allgemeinverfügung ist gemäß § 31 Satz 2 zwar ebenfalls ein Verwaltungsakt, aufgrund der Ausnahmeregelung in Abs. 2 Nr. 4 (vgl. Rz. 9) kann die Behörde von der Anhörung jedoch gleichwohl absehen. Vor Abschluss eines öffentlich-rechtlichen Vertrages, bei vorbereitenden Verfahrenshandlungen, Realakten oder schlichtem Verwaltungshandeln ist § 24 nicht einschlägig. Ebenfalls keine Anhörung ist erforderlich, wenn nicht die Verwaltung sondern der Gesetzgeber unmittelbar in Rechte des Betroffenen eingegriffen hat (BSG, Urteil v. 24.4.1985, 9a RV 11/94, BSGE 58 S. 72 = SozR 3870 § 58 Nr. 1).
Rz. 4b
Die Anhörungspflicht erfasst nur eingreifende Verwaltungsakte. In die Rechte eines Beteiligten wird stets eingegriffen, wenn die bereits vorhandene Rechtsstellung durch eine Verwaltungsentscheidung verschlechtert wird. In den Rechtskreis der Beteiligten greifen insbesondere Verwaltungsakte ein, die Sozialleistungen entziehen, herabsetzen, gewährte Geldleistungen zurücknehmen oder aufheben und zurückfordern, z. B. eine vorläufige Rente entziehen und zugleich die Dauerrente ablehnen oder niedriger als die vorläufige Rente festsetzen (BSG, Urteil v. 9.3.1978, 2 RU 99/77, BSGE 46 S. 61 = SozR 1200 § 34 Nr. 3), einen Vorbehaltsbescheid durch eine weniger günstige endgültige Regelung ersetzen (BSG, Urteil v. 19.9.2000, B 9 SB 1/00 R, BSGE 87 S. 122 = SozR 3-3900 § 22 Nr. 2). Nach herrschender Meinung ist der Beteiligte nicht anzuhören vor Verwaltungsakten, die über Bestehen und Umfang eines vom Beteiligten lediglich behaupteten Rechts entscheiden, selbst wenn sie seinem Begehren nicht (vollständig) stattgegeben, also eine (teilweise) ablehnende Verwaltungsentscheidungen treffen (BSG, Urteil v. 9.12.2004, B 6 KA 44/03 R, BSGE 94 S. 50 = SozR 4-2500 § 72 Nr. 2; BVerwG, Urteil v. 14.10.1982, 3 C 46/81, BVerwGE 66 S. 184; Mutschler, in: KassKomm. SGB X, § 24 Rz. 8; Franz, in: jurisPK-SGB X, § 24 Rz. 16; a. A. Weber, in: BeckOK SGB X, § 24 Rz. 8.1; Siefert, in: von Wulffen/Schütze, SGB X, § 24 Rz. 8).
Rz. 4c
Alle Beteiligten i. S. d. § 12, in deren Rechte eingegriffen wird, sind anzuhören. Sofern der Beteiligte gesetzlich vertreten ist, ist der gesetzliche Vertreter anzuhören, ebenso der Bevollmächtigte. In einer Bedarfsgemeinschaft ist grundsätzlich jedes Mitglied, das von dem eingreifenden Verwaltungsakt betroffen ist, anzuhören (BSG, Urteil v. 7.7.2011, B 14 AS 144/10 R).
Rz. 5
Einer Verwaltungsentscheidung dürfen nur solche Tatsachen und Beweisergebnisse zugrunde gelegt werden, zu denen die Beteiligten Stellung nehmen konnten. Die Gelegenheit zur Äußerung muss sich auf die entscheidungserheblichen Tatsachen bezogen haben. Dies sind alle Tatsachen, die zum Ergebnis der Verwaltungsentscheidung beigetragen haben, auf die die Verwaltung sich also zumindest auch gestützt hat (BSG, Urteil v. 15.8.2002, B 7 AL 38/01 R, SozR 3-1300 § 24 Nr. 21). Maßgebend ist die Sichtweise der Behörde bezüglich der materiellen Rechtslage. Denn bezüglich der Frage, ob ein Anhörungsfehler vorliegt, ist von der materiell-rechtlichen Rechtsansicht der Verwaltungsbehörde auszugehen, mag sie auch f...