2.1 Voraussetzungen
Rz. 3
§ 28 unterscheidet 2 Fälle. Voraussetzung für eine nachträgliche Antragstellung nach Satz 1 ist, dass der Leistungsberechtigte von der Stellung eines Antrages auf eine Sozialleistung deshalb abgesehen hat, weil er einen Anspruch auf eine andere Sozialleistung geltend gemacht hatte. Geltend gemacht bedeutet entsprechend einem Antrag im weitesten verfahrensrechtlichen Sinne jede Erklärung, durch die jemand eine bestimmte Sozialleistung begehrt. Weiter ist es notwendig, dass die andere Sozialleistung von der Behörde versagt, d. h. abgelehnt wurde oder nach § 50 zu erstatten ist. Es reicht auch aus, wenn der Antrag auf eine Sozialleistung nach Beginn des Verwaltungsverfahrens vom Berechtigten wieder zurückgenommen worden ist (Mutschler, in: KassKomm. SGB X, § 28 Rz. 3; Siefert, in: von Wulffen/Schütze, SGB X, § 28 Rz. 8; Franz, in: jurisPK-SGB X, § 28 Rz. 13; a. A. Vogelsang, in: Hauck/Haines, SGB X, § 28 Rz. 5). Die Fallgestaltung, in der im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens die Bewilligung einer laufenden Sozialleistungen begehrt wird, wird ebenfalls erfasst (BSG, Urteil v. 19.10.2010, B 14 AS 6/09 R, SozR 4-4200 § 37 Nr. 3). Der Berechtigte muss außerdem willentlich die Antragstellung unterlassen haben, weil er von der Bewilligung der anderen Sozialleistung ausging; insoweit muss ein Ursachenzusammenhang bestehen.
Rz. 4
Voraussetzung für eine nachträgliche Antragstellung nach Satz 2 ist einmal, dass der Antrag nicht wegen der zunächst geltend gemachten Leistung sondern aus Unkenntnis über die Anspruchsvoraussetzungen nicht gestellt wurde und zudem ein Nachrangigkeitsverhältnis besteht. Aus Unkenntnis unterlassen ist die Antragstellung, wenn die mangelnde Kenntnis der Anspruchsvoraussetzung ursächlich für die unterbliebene Antragstellung war. An den Nachweis der Unkenntnis über die Anspruchsvoraussetzungen sind dabei keine besonders strengen Anforderungen zu stellen; denn regelmäßig wird ein Leistungsberechtigter die ihm primär zustehende Leistung beanspruchen. Ferner muss die durch den späteren Antrag verlangte Sozialleistung gegenüber der im ersten Antrag begehrten Leistung, wenn diese erbracht worden wäre, subsidiär, d. h. nachrangig sein.
Nachrangig ist eine Leistung im Verhältnis zu einer anderen Leistung dann, wenn ein Anspruch auf sie nicht entstehen kann, weil ein Anspruch auf die andere Leistung besteht. Beispielsweise ist Arbeitslosengeld II gegenüber Arbeitslosengeld I nachrangig, ebenso sind Leistungen nach dem WoGG gegenüber Leistungen nach dem SGB II nachrangig. Satz 2 erfordert stets, dass die zunächst beantragte, an sich vorrangige Leistung abgelehnt wurde bzw. zu erstatten ist (BSG, Beschluss v. 24.9.2012, B 14 AS 36/12 B).
Rz. 5
§ 28 findet nur in den Fällen Anwendung, in denen die beantragte Sozialleistung (bzw. ihr rechtzeitiger Beginn) wegen Fristversäumnis nicht mehr gewährt werden kann, und betrifft nur den Fall, dass der notwendige Antrag, der nach § 16 SGB I wirksam auch bei einer unzuständigen Behörde gestellt werden kann, überhaupt nicht vorliegt (BSG, Urteil v. 1.4.1981, 9 RV 49/80, SozR 3100 § 48 Nr. 7). Sind bei sachgerechter Auslegung i. S. des Meistbegünstigungsprinzips beide Leistungen bereits von der ersten Antragstellung umfasst, so ist eine wiederholte Antragstellung entbehrlich (BSG, Urteil v. 26.8.2008, B 8/9b SO 18/07 R).
2.2 Nachholung des Antrags
Rz. 6
Die Nachholung des neuen Antrags muss sowohl bei Satz 1 wie auch bei Satz 2 innerhalb von 6 Monaten nach Ablauf des Monats erfolgen, in dem die Ablehnung oder die Erstattung der ursprünglich beantragten Leistung bindend wird. Die Frist berechnet sich nach § 26 und beginnt mit Ablauf des Monats, in dem der Ablehnungs- oder Erstattungsbescheid bestandskräftig, d. h. unanfechtbar wird. Nach dem Ablauf der 6-Monats-Frist, d. h. bei späterer Antragstellung, ist eine wirksame Nachholung des Antrags und damit der anderen Leistung nicht mehr möglich.
2.3 Rückwirkung
Rz. 7
Satz 1 fingiert das Vorliegen des Antrags bis zu einem Jahr in die Vergangenheit vom Zeitpunkt der nachgeholten Antragstellung an, wenn er innerhalb von 6 Monaten gestellt wird, in dem die Ablehnung der zunächst beantragten Sozialleistung oder die Erstattung der zunächst erbrachten Sozialleistung entweder durch nicht mehr anfechtbaren Verwaltungsakt oder rechtskräftiges Urteil bindend geworden sind. Der nachgeholte Antrag kann damit bis zur ersten erfolglosen Antragstellung zurückwirken, wenn seit seiner Stellung noch kein Jahr vergangen ist. Allerdings ist die Rückwirkung auf ein Jahr begrenzt, wenn seit dem erfolglos gestellten Antrag mehr als ein Jahr vergangen ist. Der Leistungsberechtigte erfährt hier evtl. keinen vollen Ausgleich für eingetretene Rechtsnachteile. Die Rückwirkung bezieht sich nicht auf den Leistungsbeginn, sondern nur auf den Antrag.
Satz 2 dehnt die Fiktion der Antragstellung mit Rückwirkung bis zu einem Jahr auf die dortige Fallgestaltung aus. § 28bewirkt, dass dem zweiten Antrag Rückwirkung zukommt. Die sonstigen Leistungsvoraussetzungen müssen ebenfalls vorliegen.