Rz. 4
Mit der Generalklausel des Abs. 1 über die Nichtigkeit bei einem besonders schweren offenkundigen Fehler wurde die bereits vor dem SGB X und anderen Verfahrensregelungen in der Rechtsprechung anerkannte und angewandte Evidenz-Theorie mit allen damit verbundenen Unklarheiten als Gesetzestext übernommen.
Rz. 5
Sowohl der unbestimmte Rechtsbegriff des besonders schweren Fehlers als auch der Begriff der Offensichtlichkeit (bis 13.8.1998 Offenkundigkeit), die kumulativ vorliegen müssen, sind wenig präzise. Auch deshalb, weil nichtige VA in der Praxis sehr selten vorkommen, gibt es kaum höchstrichterliche Entscheidungen zu der Problematik, so dass sich Fallgruppen nur schwer bilden lassen. Insbesondere für den Adressaten eines Bescheides kann es schwierig sein, die bisherigen gerichtlichen Entscheidungen nachzuvollziehen. In Zweifelsfällen ist es daher angezeigt, sich nicht auf die vermeintliche Nichtigkeit zu verlassen, sondern den Bescheid mit Widerspruch anzufechten und hilfsweise dessen Nichtigkeit geltend zu machen bzw. verwaltungsseitig den VA aufzuheben oder dessen Nichtigkeit förmlich feststellen zu lassen, um bei einer späteren gerichtlichen Beurteilung des VA als (nur) rechtswidrig keine Rechtsnachteile (Versäumung der Widerspruchsfrist, Bindung an Bestandskraft) zu erleiden.
2.1.1 Schwerwiegender Fehler
Rz. 6
Eine der Voraussetzungen der Nichtigkeit ist ein besonders schwerwiegender Fehler, so dass ein schwerwiegender Fehler allein nicht ausreicht. Dieser besonders schwerwiegende Fehler muss dem Bescheid von Beginn an (also schon zum Zeitpunkt der Bekanntgabe) anhaften. Das Gesetz verlangt hier nicht – wie in anderen Vorschriften – die Verletzung von Form-, Verfahrens- oder sonstigen Rechtsvorschriften als Rechtsfehler, sondern stellt lediglich auf Fehler ab. Daher können auch andere als Rechtsfehler die Nichtigkeit begründen.
Rz. 7
Schwerwiegend sind nur solche Fehler, bei denen eine Auslegung oder Umdeutung ausgeschlossen ist. Lässt sich ein Bescheid in einen wenn auch ggf. rechtswidrigen VA umdeuten, ist dieser nicht nichtig. Eine unklare, sachlich falsche oder rechtlich fehlerhafte Begründung stellt jedoch keinen schwerwiegenden Fehler dar, wenn der Verfügungssatz des VA eindeutig ist und als Inhalt eines VA in Betracht kommt.
Rz. 8
Soweit Rechtsfehler als Nichtigkeitsgründe in Betracht kommen, sind damit alle Verstöße gegen formelle oder materielle Rechtsvorschriften möglich. Da aber selbst ein rechtsgrundloser (gesetzloser) VA, für den jegliche materielle Rechtsgrundlage (Ermächtigungs- und Regelungsbefugnis) fehlt, nicht schon an einem zur Nichtigkeit führenden Fehler leidet (vgl. BSG, Urteil v. 9.6.1999, B 6 KA 76/97 R, SozR 3-1300 § 40 Nr. 5, anders aber wohl BSG, Urteil v. 7.9.2006, B 4 RA 43/05 R für den Fall, dass ohne jegliche in Betracht kommende Ermächtigungsgrundlage Pflichten eines Bürgers einseitig festgestellt werden), kommen Verfahrensfehler als besonders schwerwiegende Fehler (Ausnahme Abs. 2) kaum in Betracht.
Rz. 9
Als besonders schwerwiegend werden Fehler angesehen, die unter einem elementaren Verstoß gegen die Rechtsordnung ergangen und unter keinen Umständen mit dieser vereinbar sind (BVerwG, Urteil v. 22.2.1985, 8 C 107/83, NJW 1985 S. 2658, BSG, Urteil v. 7.9.2006, B 4 RA 43/05 R) bzw. der Fehler in einem so gravierenden Widerspruch zur geltenden Rechtsordnung und den hier zugrunde liegenden Wertvorstellungen bzw. den tragenden Verfassungsprinzipien steht, dass es unerträglich erschiene, wenn die beabsichtigten Rechtswirkungen eintreten würden (BSG, Urteil v. 12.9.1995, 12 RK 24/95; vgl. auch SG Gießen, Urteil v. 1.6.2015, S 15 KR 739/12 zu Folgen von Verfahrens- und Formfehlern bei Widerspruchsbescheiden), Entscheidend sind also die Bedeutung und das Gewicht des Fehlers, nicht die Fehlerart (Sächs. LSG, Urteil v. 2.9.2009, L 1 P 1/07). Schwerwiegend ist der Fehler dann, wenn er derart im Widerspruch zur geltenden Rechtsordnung steht, dass es unerträglich wäre, wenn der VA die mit und in ihm enthaltenen Rechtswirkungen hätte. Maßgebend ist nicht so sehr und nicht notwendig der Verstoß gegen bestimmte – unter Umständen zwingende – Rechtsvorschriften, sondern der Verstoß gegen die Rechtsordnung insgesamt oder ihr in bestimmter Hinsicht zugrunde liegende wesentliche Zweck- und Wertvorstellungen, insbesondere auch der Verstoß gegen tragende Verfassungsgrundsätze (Sächs. LSG, a. a. O., unter Hinweis auf Roos, in: v. Wulffen, SGB X, § 40 Rz. 7). Ein einfacher Gesetzesverstoß reicht nicht aus. Stellt ein Leistungsträger ein Versicherungspflichtverhältnis fest, obwohl dieses kraft Gesetzes erloschen ist, reicht dies für die Annahme eines schwerwiegenden Fehlers nicht aus (BSG, Urteil v. 4.12.2014, B 5 AL 2/14 R).
Rz. 9a
Dabei ist das subjektive Verschulden der Behörde an dem Fehler nicht von Bedeutung. Selbst der durch Drohung, Nötigung oder Bestechung durch den Adressaten herbeigeführte rechtswidrige VA leidet, wie sich aus der dann nur rückwirkend möglichen Rücknahme gemäß § 45 Abs. 2 Nr. 1 ergibt, nicht an ein...