2.2.1 Begriffsinhalt und Abgrenzung
Rz. 4
Der Begriff des Versicherungsfalles wird im Gesetz nicht definiert. Allgemein wird darunter die Umschreibung des Versicherungswagnisses verstanden. Der Eintritt eines Versicherungsfalles ist – von vorbeugenden Leistungen abgesehen – zwingende Voraussetzung für den Eintritt eines Leistungsfalles; er darf jedoch nicht mit dem Leistungsfall gleichgesetzt werden (BSG, Urteil v. 16.3.2010, B 2 U 4/09 R). Die Leistungsfälle, d. h. die Voraussetzungen für die Gewährung bestimmter Leistungen, sind gesondert normiert. Allerdings kommt der Eintritt eines Versicherungsfalles nur dann in Betracht, wenn ein irgendwie gearteter Personenschaden eingetreten ist. Der folgenlos gebliebene Unfall ist kein Arbeitsunfall.
Ein Arbeitnehmer trägt bei einer versicherten Tätigkeit eine leichte Prellung der Schulter davon. Damit ist der Versicherungsfall (Arbeitsunfall) eingetreten. Es ist ggf. eine einmalige ärztliche Behandlung erforderlich (insoweit Leistungsfall), die Voraussetzungen für die Gewährung von Verletztengeld oder gar Rente sind nicht gegeben (insoweit kein Leistungsfall).
Rz. 5
Oftmals wird nicht um die Gewährung bestimmter Leistungen gestritten, sondern darum, ob überhaupt ein Arbeitsunfall eingetreten ist oder ob eine bestimmte Berufskrankheit vorliegt. Der Versicherte muss in einem solchen Falle nicht einen bestimmten Leistungsantrag stellen. Er kann die Anerkennung des Versicherungsfalles beantragen. Im Sozialgerichtsprozess ist dann die kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage (auf Feststellung, dass am ... ein Arbeitsunfall eingetreten ist oder auf Feststellung des Vorliegens einer Berufskrankheit nach Nr. ... der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung) die statthafte Klageart (BSG, Urteil v. 13.12.2005, B 2 U 29/04 R).
2.2.2 Voraussetzungen für den Eintritt eines Versicherungsfalles
Rz. 5a
Zur Feststellung eines Versicherungsfalls sind in mehrerlei Hinsicht Zusammenhangsfragen zu klären. Zunächst muss der innere (sachliche) Zusammenhang zwischen dem konkreten unfallbringenden Verhalten (beim Arbeitsunfall) bzw. der schädigenden beruflichen Einwirkung (bei der Berufskrankheit) und einer versicherten Tätigkeit bestehen. Anders ausgedrückt: Die unfallbringende Betätigung darf nicht als privat und eigenwirtschaftlich zu werten sein. Die schädigende Einwirkung darf nicht von einem ubiquitär vorkommenden Stoff herrühren. Der innere Zusammenhang ist wertend zu ermitteln, indem untersucht wird, ob die jeweilige Verrichtung innerhalb der Grenze liegt, bis zu der Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung reicht. Bei dieser Wertung kommt der Handlungstendenz des Versicherten, dem Zweck seines Handelns maßgebliche Bedeutung zu (BSG, Urteil v. 30.4.1985, 2 RU 24/84). Der Kausalzusammenhang zwischen der mit der versicherten Tätigkeit im inneren Zusammenhang stehenden Verrichtung zur Zeit des Unfalls und dem Unfallereignis wird als Unfallkausalität bezeichnet (BSG, Urteil v. 17.2.2009, B 2 U 18/07 R). Als Einwirkungskausalität wird der Zusammenhang zwischen der Verrichtung und Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen oder Ähnlichem auf den Körper bezeichnet (BSG, Urteil v. 2.4.2009, B 2 U 9/08 R). Die unfallbringende Betätigung bzw. die Einwirkungen müssen eine Krankheit verursacht haben (haftungsbegründende Kausalität – BSG, a. a. O.). Im Rahmen der haftungsausfüllenden Kausalität ist zu prüfen, ob die geltend gemachte Gesundheitsstörung mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit auf den Arbeitsunfall oder die Berufskrankheit zurückzuführen ist, oder ob es sich um ein unfallunabhängiges Leiden handelt.
Rz. 5b
Der innere Zusammenhang ist im Rahmen einer rein rechtlichen Wertung zur Reichweite der Versicherung zu klären. Für die übrigen Ursachenzusammenhänge ist eine Prüfung nach der im Sozialrecht geltenden Theorie der wesentlichen Bedingung durchzuführen. Diese beruht auf der naturwissenschaftlich-philosophischen Bedingungstheorie als Ausgangsbasis. Nach dieser ist jedes Ereignis Ursache eines Erfolges, das nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (conditio sine qua non). Aufgrund der Unbegrenztheit der naturwissenschaftlich-philosophischen Ursachen für einen Erfolg ist für die praktische Rechtsanwendung in einer 2. Prüfungsstufe die Unterscheidung zwischen solchen Ursachen notwendig, die rechtlich für den Erfolg verantwortlich gemacht werden bzw. denen der Erfolg zugerechnet wird, und den anderen, für den Erfolg rechtlich unerheblichen Ursachen (BSG, Urteil v. 9.5.2006, B 2 U 1/05 R). Während die dafür maßgeblichen Tatsachen und auch der innere Zusammenhang im Vollbeweis festgestellt werden müssen, genügt bei den Kausalzusammenhängen die hinreichende Wahrscheinlichkeit, nicht hingegen die bloße Möglichkeit (BSG, Urteil v. 27.6.2006, B 2 U 13/05 R).