2.1 Listenberufskrankheiten (Abs. 1 Satz 1)
Rz. 12
(Listen-)Berufskrankheiten sind Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufskrankheiten in der Anlage zur BKV bezeichnet (generelle Voraussetzung, Abs. 1 Satz 1 HS 1, § 1 BKV) und die Versicherte infolge einer Tätigkeit erleiden, die Versicherungsschutz nach § 2, 3 oder 6 begründet (konkrete Voraussetzung, Abs. 1 Satz 1 HS 2). Damit schreibt der Gesetzgeber das sog. Listensystem bzw. Enumerationsprinzip fest. Es schafft Beweiserleichterungen, sorgt für Gleichbehandlung, erhöht die Rechtssicherheit und verbessert die Durchsichtigkeit des Berufskrankheitenrechts.
Rz. 13
Der Verordnungsgeber bezeichnet die Tatbestände der Berufskrankheiten uneinheitlich, teils durch ihre medizinischen Namen, Krankheitsanzeichen oder Zielorgane (listenmäßige Erkrankung), teils durch die Einwirkung bestimmter Listenstoffe ("Erkrankungen durch …"). Mitunter kombiniert er eine listenmäßige Erkrankung mit bestimmten Listenstoffen ("Erkrankung der … durch …") und stellt darüber hinaus besondere Anerkennungsvoraussetzungen auf, zu denen z. B. der Unterlassungszwang oder die Zugehörigkeit zu bestimmten Personenkreisen zählen.
Rz. 14
Die Voraussetzungen des § 9 Abs. 1 Satz 1 und der Tatbestand der jeweiligen Listenberufskrankheit müssen kumulativ erfüllt sein. Für die Listenberufskrankheit ergibt sich folgendes Prüfungsschema:
- versicherte Tätigkeit,
- listenmäßige Einwirkung(en),
- Einwirkungskausalität zwischen 1. und 2.,
- listenmäßige Erkrankung,
- haftungsbegründende Kausalität zwischen 2. und 4.,
- eventuelle Listenvorbehalte.
2.1.1 Versicherte Tätigkeit
Rz. 15
Der Versicherungsschutz wird erst dann aktiviert, wenn die schädlichen Einwirkungen, denen der Versicherte ausgesetzt war, einem der Tatbestände zugeordnet werden können, die in §§ 2, 3 oder 6 aufgeführt sind. Allerdings umschreiben diese Vorschriften in aller Regel keine Tätigkeiten (Ausnahme: Rettungshandlung nach § 2 Abs. 1 Nr. 13a), sondern nur den versicherten Personenkreis (z. B. Beschäftigte nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 oder Schüler nach § 2 Abs. 1 Nr. 8b). Diese grundsätzlich versicherten Personen sind aber keinesfalls "rund um die Uhr" geschützt, sondern immer nur, wenn sie versicherte Tätigkeiten verrichten. Hierzu gehören die Kerntätigkeiten, die der Versicherte arbeitsvertraglich übernommen hat oder mit denen ihn der Arbeitgeber aufgrund seines Weisungs- oder Direktionsrechts betrauen kann. Außerhalb dieses Kernbereichs ergeben sich in der Mehrzahl der Tatbestände, die § 2 Abs. 1 regelt, Zuordnungsschwierigkeiten (Köhler, Kausalität, Finalität und Beweis, 2001, S. 142; ders., SGb 2006, 14). Um diese Zuordnungsprobleme zu lösen, ist wertend zu ermitteln, wie weit der Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung reicht. Diese Wertentscheidung ist im dritten Prüfungsschritt beim sog. Zurechnungszusammenhang zu treffen. Im ersten Prüfungsschritt ist zunächst nur festzustellen, ob der Versicherte zum grundsätzlich versicherten Personenkreis gehört, den die §§ 2, 3 oder 6 umschreiben. Die Versicherteneigenschaft muss mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststehen (vgl. BSG, Urteile v. 20.1.1987, 2 RU 27/86, und v. 22.6.1988, 9/9a RVg 3/87; Bereiter-Hahn/Mehrtens, § 9 SGB VII Rz. 3; Mehrtens/Brandenburg, E § 9 SGB VII Rz. 14).
2.1.2 Listenmäßige Einwirkung(en)
Rz. 16
Einwirkungen sind alle Umstände, die die Gesundheit des Menschen von außen beeinflussen. Obwohl das Gesetz in Abs. 1 Satz 2 nur die Mehrzahl (Einwirkungen) benutzt, kann im Extremfall ein einmaliger Vorgang ausreichen (z. B. Infektion bei der BK 3101). Der Einwirkungsbegriff ist weit auszulegen (Becker, in: Brackmann, SGB VII, § 9 Rz. 49; Kater/Leube, SGB VII, § 9 Rz. 62; Mehrtens/Brandenburg, E § 9 SGB VII Rz. 8.1; Ricke, in: Kasseler Kommentar, SGB VII, § 9 Rz. 9). Er umfasst chemische Substanzen (Metalle und Metalloide, Gase, Lösemittel), Körper- und Zwangshaltungen sowie andere mechanische Belastungen, Erschütterungen und Vibrationen, Druckluft, Lärm, Strahlen, Infektionserreger, Stäube und auch psychische Belastungen. Unerheblich ist, ob der Versicherte die Einwirkungen spürt. Ein Nichts oder ein bloßer Mangel sind jedoch keine Einwirkungen, und sei es auch nur in psychischer Form, auf den Körper eines Menschen oder auf eine Gruppe (BSG, Urteil v. 27.4.2010, 2 U 13/09 R).
Rz. 17
Bei der BK 3101 (Infektionskrankheiten) tritt aufgrund der Nachweisschwierigkeit eines konkreten Infektionsvorgangs die besonders erhöhte Infektionsgefahr an die Stelle der Einwirkungen. Sie ist entsprechend den Anforderungen an das Merkmal der Einwirkungen im Vollbeweis nachzuweisen (BSG, Urteil v. 2.4.2009, B 2 U 7/08 R, NZS 2010, 345). Die besonders erhöhte Infektionsgefahr ist anhand der Durchseuchung des beruflichen Umfelds und der Übertragungsgefahr bei der versicherten Tätigkeit zu beurteilen (BSG, Urteil v. 2.4.2009, B 2 U 30/07).
Rz. 18
Der Verordnungsgeber umschreibt die listenmäßigen Einwirkungen in den Tatbeständen der jeweiligen (Listen-) Berufskrankheit. Während er früher allgemeine und etwas unbestimmt gehal...