Rz. 63
Führten die Beratungen zur Aufnahme der Krankheit in die Berufskrankheitenliste, so nahm der Verordnungsgeber regelmäßig eine Rückwirkungsklausel auf, wonach die Berufskrankheit nur dann anzuerkennen ist, wenn der Versicherungsfall nach einem bestimmten Stichzeitpunkt eingetreten ist (vgl. dazu die Regelungen in § 6 BKV). In den Stichtagsregelungen des § 6 BKV wird der Begriff des Versicherungsfalls nicht in seiner gemäß § 7 Abs. 1 SGB VII gesetzlichen Bedeutung, sondern untechnisch und gleichbedeutend mit "Erkrankung" verwendet, sodass in diesen Regelungen unter dem "Versicherungsfall" der "Erkrankungsfall" zu verstehen ist. Der Versicherungsfall einer Listen-Berufskrankheit kann nicht vor dem Zeitpunkt eintreten, zu dem ihre Aufnahme in die Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) in Kraft getreten ist (BSG, Urteil v. 17.5.2011, B 2 U 19/10 R). Die Stichtagsregelungen stehen in einem Spannungsverhältnis zu Abs. 2, der keine Begrenzung der rückwirkenden Entschädigung vorsieht. Das BVerfG (Nichtannahmebeschlüsse v. 9.10.2000, 1 BvR 791/95, v. 24.10.2000, 1 BvR 1319/95, und v. 23.6.2005, 1 BvR 235/00) und ihm folgend das BSG (Urteil v. 27.6.2006, B 2 U 5/05 R) haben zwar solche Rückwirkungsklauseln grundsätzlich als verfassungsmäßig eingestuft. Sie haben diese jedoch einschränkend dahingehend ausgelegt, dass solche Sachverhalte nicht erfasst werden, bei denen ein vor dem Inkrafttreten der jeweiligen Änderungs-VO zur BKV gestellter entscheidungsreifer Antrag trotz Vorliegens der Voraussetzungen des Abs. 2 allein mit Rücksicht auf das künftige Recht abgelehnt wurde (Fallgruppe 1). Das BSG (a. a. O.) hat darüber hinaus auch in den Fällen die Rückwirkungsklausel für nicht anwendbar erachtet, in denen das Feststellungsverfahren wegen der Berufskrankheit bereits vor Inkrafttreten der Änderungs-VO zur BKV eingeleitet worden war, die Entscheidungsreife damals aber noch nicht gegeben war (Fallgruppe 2). Gleiches müsse gelten, wenn zu einem früheren Zeitpunkt wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen nach Abs. 1 die Anerkennung abgelehnt wurde, die spätere Prüfung jedoch ergebe, dass diese Voraussetzungen objektiv vorliegen (Fallgruppe 3). Dies gebiete der Gleichheitsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 GG (vgl. dazu auch BVerfG, Beschluss v. 23.6.2005, 1 BvR 235/00; Becker, SGb 2006, 97). Seit der 3. BKVÄndV v. 22.12.2016 werden bei der Aufnahme neuer Berufskrankheiten in die Liste keine Rückwirkungsklauseln aufgenommen (vgl. Rz. 13b).