Prof. Dr. Franceska Werth
Leitsatz
1. § 4 Abs. 9 EStG i.d.F. des BeitrRLUmsG erfasst Aufwendungen für ein Erststudium, das eine Erstausbildung vermittelt, auch dann, wenn das Studium objektiv und subjektiv der Förderung einer konkreten späteren Erwerbstätigkeit dient.
2. § 4 Abs. 9 EStG i.d.F. des BeitrRLUmsG ist im Hinblick auf die übertragbaren Ausführungen zu § 9 Abs. 6 EStG i.d.F. des BeitrRLUmsG im BVerfG-Beschluss vom 19.11.2019 – 2 BvL 22 27/14 (DStR 2020, 93) mit Art. 3 Abs. 1 GG, Art. 12 GG und dem Prinzip der Steuerfreiheit des Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG) vereinbar.
3. Die rückwirkende Anwendung der Regelung des § 4 Abs. 9 EStG i.V.m. § 52 Abs. 12 Satz 11 EStG i.d.F. des BeitrRLUmsG für die Veranlagungszeiträume ab 2004 ist verfassungsgemäß (s. bereits Senatsurteil vom 05.11.2013 – VIII R 22/12, BFHE 243, 486, BStBl II 2014, 165).
Normenkette
§ 4 Abs. 9, § 10 Abs. 1 Nr. 7, § 52 Abs. 12 Satz 11 EStG, Art. 1 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1, Art. 12, Art. 20 Abs. 1 GG
Sachverhalt
Die Klägerin war im Streitjahr 2004 19 Jahre alt. Sie lebte zuvor in Weißrussland, wo sie bei ihrem Vater drei Jahre lang eine Kunstschule besuchte und anschließend an der Universität Pädagogik studierte. Weder die künstlerische Ausbildung beim Vater noch das Studium in Weißrussland beendete sie mit einer Abschlussprüfung. Sie begann im Streitjahr 2004 an einer Universität in Deutschland ein Studium der Slawistik und Kunstpädagogik. Dieses Studium schloss sie 2010 mit der Magisterprüfung ab. Bereits während der Ausbildung in Weißrussland arbeitete die Klägerin als Künstlerin und Buchillustratorin. Sie erzielte aus dieser Tätigkeit in Weißrussland Einnahmen und führte diese Tätigkeit in Deutschland fort. Bei ihrer Gewinnermittlung für das Streitjahr machte die Klägerin bei Betriebseinnahmen i.H.v. 120 EUR studienbezogene Aufwendungen, die auf Arbeitsmittel, Immatrikulationskosten, Aufwendungen für eine doppelte Haushaltsführung und Fahrtkosten entfielen, i.H.v. 9.043,39 EUR geltend. Das FA erkannte lediglich geschätzter Betriebsausgaben i.H.v. 25 % der Einnahmen der Klägerin aus selbstständiger Tätigkeit an. Es legte danach Einkünfte aus selbstständiger Arbeit i.H.v. 90 EUR der Besteuerung zugrunde. Die Aufwendungen für das Studium berücksichtigte es als Sonderausgaben i.H.v. 4.000 EUR gemäß § 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG. Das FG gab der hiergegen erhobenen Klage weitgehend statt (Niedersächsisches FG, Urteil vom 3.11.2011, 11 K 467/09, Haufe-Index 2859264, EFG 2012, 305). Es entschied den Streitfall nach der Rechtslage vor Inkrafttreten des Beitreibungsrichtlinie-Umsetzungsgesetzes vom 7.12.2011 (BGBl I 2011, 2592).
Entscheidung
Der BFH hat der Revision des FA nach der neuen Rechtslage stattgegeben, das FG-Urteil aufgehoben und die Klage bis auf einen geringen Betrag abgewiesen.
Hinweis
1. Nach § 4 Abs. 9 EStG i.d.F. des Beitreibungsrichtlinie-Umsetzungsgesetzes (BeitrRLUmsG) dürfen Aufwendungen für ein Erststudium, das eine Erstausbildung vermittelt, nicht als Betriebsausgaben abgezogen werden. Zwar war die Vorschrift zum Zeitpunkt des Erlasses des FG-Urteils noch nicht in Kraft. Es handelt sich insoweit um eine echte Rückwirkung. Die Regelung ist jedoch vom BFH als Revisionsgericht zu beachten. Ein vor Erlass des geänderten Gesetzes ergangenes FG-Urteil verletzt Bundesrecht, wenn es – wie hier – im Zeitpunkt der Entscheidung des BFH nicht mit dem für das Streitjahr geltenden Recht in Einklang steht.
2. Die Voraussetzungen des § 4 Abs. 9 EStG i.d.F. des BeitrRLUmsG waren vorliegend erfüllt. Die Aufwendungen der Klägerin für das Studium in Deutschland sind Aufwendungen für ein Erststudium, da die Klägerin ihre Ausbildung in Weißrussland nicht abgeschlossen hatte.
3. Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht daraus, dass die Klägerin im Streitjahr bereits Einnahmen aus ihrer künstlerischen Tätigkeit erzielte. Für die Einkünfteerzielung aus einer künstlerischen Tätigkeit ist keine Vorbildung oder förmlich abgeschlossene Ausbildung notwendig, weil es allein auf die künstlerische Qualität des geschaffenen Werks ankommt. Dabei ist zu beachten, dass die Tätigkeit eines Künstlers etwa im Umgang mit Materialien und Techniken in der Regel auf einer autodidaktischen Eigenausbildung beruht und nicht den formalen Abschluss von Bildungsmaßnahmen voraussetzt.
4. Die Aufwendungen der Klägerin für das Studium in Deutschland mindern somit lediglich als Sonderausgaben gemäß § 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG bis zur Höhe von 4.000 EUR ihr zu versteuerndes Einkommen im Streitjahr. Nach der Entscheidung des BVerfG vom 19.11.2019, 2 BvL 22/14, BVerfGE 152, 274, ist diese Beschränkung des Werbungskosten- bzw. Betriebsausgabenabzugs verfassungsgemäß.
5. In Bezug auf die Rückwirkung des § 4 Abs. 9 EStG i.d.F. des BeitrRLUmsG liegt nach Auffassung des VIII. Senats keine verfassungsrechtlich unzulässige echte Rückwirkung vor (s. hierzu BFH, Urteil vom 5.11.2913, VIII R 22/12, BFH/NV 2014, 238, BFH/PR 2014, 72, Haufe-Index 6222969). D...