Leitsatz
Ein bestandskräftiger Bescheid, mit dem die Familienkasse die Festsetzung von Kindergeld im laufenden Kalenderjahr wegen der den Jahresgrenzbetrag (§ 32 Abs. 4 Satz 2 EStG) voraussichtlich übersteigenden Einkünfte und Bezüge des Kindes aufgehoben hat (Prognoseentscheidung), ist nicht nach § 70 Abs. 4 EStG zu ändern, wenn der Jahresgrenzbetrag allein deshalb unterschritten wird, weil nach der späteren Entscheidung des BVerfG die Arbeitnehmerbeiträge des Kindes zur gesetzlichen Sozialversicherung abweichend von der bisher vorherrschenden Rechtsauffassung nicht in die Bemessungsgröße für den Jahresgrenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG einzubeziehen sind.
Normenkette
§ 32 Abs. 4 Satz 2, § 70 Abs. 4 EStG
Sachverhalt
Mit Bescheid vom September 2002 hob die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung für die volljährige, in einem Ausbildungsverhältnis stehende Tochter des Klägers ab Januar 2002 mit der Begründung auf, nach der vorgelegten Ausbildungsbescheinigung überschritten die voraussichtlichen Einkünfte der Tochter den Jahresgrenzbetrag von 7.188 €. Der Bescheid wurde nicht angefochten. Im Juni 2005 beantragte der Kläger unter Hinweis auf die BVerfG-Entscheidung rückwirkend ab Januar 2002 Kindergeld, da nach Abzug der Sozialversicherungsbeiträge der Jahresgrenzbetrag nicht überschritten war. Die Familienkasse gewährte Kindergeld erst ab Oktober 2002.
Entscheidung
Der BFH bestätigte die Familienkasse. Da sich nichts an den der Prognose zugrunde gelegten Tatsachen, sondern nur deren rechtliche Beurteilung geändert hatte, griff § 70 Abs. 4 EStG nicht ein, sodass der bestandskräftige Aufhebungsbescheid vom September 2002 nicht mehr geändert werden konnte.
Hinweis
Ein volljähriges Kind, das sich in Berufsausbildung befindet, wird für das Kindergeld berücksichtigt, wenn seine Einkünfte und Bezüge den Jahresgrenzbetrag von 7.680 € (bis 2003: 7.188 €) nicht überschreiten. Der BFH vertrat früher die Auffassung, der Arbeitslohn (Ausbildungsvergütung) des Kindes sei für die Berechnung, ob der Grenzbetrag überschritten ist, nicht um die gesetzlichen Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung zu kürzen. Dabei legte der BFH den Begriff der Einkünfte i.S.v. § 2 Abs. 2 EStG aus (BFH, Urteil vom 4.11.2003, VIII R 59/03, BFH-PR 2004, 137) zugrunde.
Das BVerfG hat diese Rechtsprechung als gleichheitswidrig beanstandet. Denn sie benachteiligt Eltern mit der Sozialversicherungspflicht unterliegenden Kindern insofern, als die Pflichtbeiträge in die Einkünfte des Kindes eingerechnet werden, obwohl sie für den Kindesunterhalt und damit die finanzielle Entlastung der Eltern nicht zur Verfügung stehen (BVerfG, Beschluss vom 11.1.2005, 2 BvR 167/02, BVerfGE 112, 164). Die Einkünfte des Kindes sind daher bei der Berechnung, ob der Jahresgrenzbetrag überschritten ist, um die Sozialversicherungsbeiträge zu mindern.
Unter Berufung auf die neue Sichtweise des BVerfG haben viele Eltern die rückwirkende Bewilligung von Kindergeld beantragt. Dabei sind zwei Fallgestaltungen zu unterscheiden:
Hat die Familienkasse nach Ablauf des Kalenderjahrs die Festsetzung von Kindergeld abgelehnt oder eine bestehende Kindergeldfestsetzung aufgehoben, hilft die BVerfG-Entscheidung nicht weiter. Es greift keine Korrekturvorschrift ein, die die Bestandskraft durchbrechen könnte. § 70 Abs. 4 EStG ist in diesem Fall nicht anwendbar.
Die Vorschrift greift nur ein, wenn vor oder während des Kalenderjahrs eine zu korrigierende Kindergeldfestsetzung als Prognoseentscheidung ergangen ist. Nicht anwendbar ist die Regelung, wenn der Ablehnungsbescheid oder die Kindergeldaufhebung erst nach Jahresablauf ergangen ist (BFH, Urteil vom 28.6.2006, III R 13/06, BFH-PR 2006, 492).
In dieser Entscheidung hat der BFH noch ausdrücklich offen gelassen, ob § 70 Abs. 4 EStG die Aufhebung oder Änderung der als Prognose ergangenen Kindergeldfestsetzung stets ermöglicht, also nicht nur, wenn sich die der Prognose zugrunde gelegten Tatsachen nachträglich als unrichtig herausstellen, z.B. weil sich die Einkünfte und Bezüge entgegen der Prognose im laufenden Kalenderjahr erhöht oder vermindert haben, sondern auch dann, wenn sich lediglich die rechtliche Beurteilung des der Prognoseentscheidung zugrunde liegenden Sachverhalts geändert hat, z.B. zur Berücksichtigung bestimmter Zu- und Abflüsse im Rahmen der Einkünfteermittlung zur Prüfung der Überschreitung des Jahresgrenzbetrags.
Der BFH hat nun die Anwendbarkeit des § 70 Abs. 4 EStG auch für den Fall verneint, dass sich ein von der Prognose abweichender Betrag ergibt, weil sich aufgrund einer Entscheidung des BVerfG die Rechtsauffassung zum Einkünftebegriff geändert hat. Die für die Eltern günstige neue Rechtsprechung kommt daher sowohl bei Kindergeldfestsetzungen nach Ablauf des Kalenderjahrs als auch vor Beginn oder während des Kalenderjahrs rückwirkend nur zur Anwendung, wenn die Bescheide angefochten worden sind.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 28.11.2006, III R 6/06