Leitsatz
Für die Anwendung des § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO ist entscheidend, wann der materiell-rechtliche Berichtigungstatbestand des § 17 Abs. 2 UStG verwirklicht wird. Nicht entscheidend ist, wann die zu berichtigende Steuerforderung begründet worden ist (Änderung der Rechtsprechung).
Ohne Bedeutung ist – ebenso wie der Zeitpunkt der Abgabe einer Steueranmeldung oder des Erlasses eines Steuerbescheids, in dem der Berichtigungsfall erfasst wird –, ob der Voranmeldungs- oder Besteuerungszeitraum erst während des Insolvenzverfahrens abläuft.
Normenkette
§ 38, § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO, § 17 UStG
Sachverhalt
Vom Insolvenzverwalter wegen uneinbringlich gewordener Forderungen des Schuldners aus einer Reihe von vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens erstellten Ausgangsrechnungen vorgenommene Berichtigungen der Umsatzsteuer führten zu Erstattungsbeträgen. Der Verwalter hat dazu erklärt, die Berichtigung der betreffenden Anmeldungen habe zu einer Verminderung der Zahllast geführt, weshalb zu erstatten sei.
Das FA hat jedoch gegen diese Beträge die Aufrechnung mit seinen unbefriedigten Umsatzsteuerforderungen aus der Zeit vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens erklärt und hierüber den angefochtenen Abrechnungsbescheid erlassen (FG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 10.5.2011, 5 K 5350/09, EFG 2011, 1593).
Entscheidung
Der BFH hat den Abrechnungsbescheid aufgehoben. Der vom FA erklärten Aufrechnung stehe § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO entgegen.
Hinweis
§ 95 Abs. 1 Satz 1 InsO gestattet die Aufrechnung während des Insolvenzverfahrens einem Insolvenzgläubiger, der gegen den Insolvenzschuldner eine vor Verfahrenseröffnung begründete Forderung besitzt, bei welcher eine Bedingung erst während des Insolvenzverfahrens eintritt. Dass ein Anspruch in diesem Sinne bedingt vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründet ist, hat eine jahrzehntealte Rechtsprechung des VII. Senats des BFH angenommen, selbst wenn noch "ein Element der rechtlichen Voraussetzungen des Anspruchs nicht erfüllt ist", die Forderung jedoch "in ihrem rechtlichen Kern" aufgrund gesetzlicher Bestimmungen oder vertraglicher Vereinbarungen bereits gesichert ist (vgl. BGH, Urteil vom 29.6.2004, IX ZR 147/03, BGHZ 160, 1).
Bei steuerlichen Erstattungs- und Vergütungsforderungen wurde dies bisher angenommen, wenn der Sachverhalt, der zu der Entstehung des steuerlichen Anspruchs führte, vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens verwirklicht worden sei (vgl. statt aller BFH-Urteile vom 17.4.2007, VII R 27/06, Haufe-Index 1755452, BFH/NV 2007, 1391, BFHE 217, 8 und in BFHE 172, 308). So liege es in der Regel, wenn eine Steuer, die vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstanden sei, zu erstatten oder zu vergüten oder in anderer Weise dem Steuerpflichtigen wieder gutzubringen sei. Ein diesbezüglicher Anspruch des Steuerpflichtigen werde dann nicht erst nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründet, sondern stelle eine vor Eröffnung des Verfahrens aufschiebend bedingt begründete Forderung dar. Gegen diese könne die Finanzbehörde gem. § 95 InsO im Verfahren aufrechnen, wenn das als aufschiebende Bedingung zu behandelnde, die Erstattung, Vergütung oder sonst die Rückführung der steuerlichen Belastung auslösende Ereignis selbst – z.B. die Notwendigkeit einer Berichtigung der Umsatzsteuer gem. § 17 UStG (vgl. BFH, Urteil vom 4.8.1987, VII R 11/84, BFH/NV 1987, 707 und BFH, Beschluss vom 6.10.2005, VII B 309/04, BFH/NV 2006, 369) – nach Eröffnung des Verfahrens eintrete. In den Fällen des § 17 UStG entstehe zwar ein steuerverfahrensrechtlich selbstständiger Anspruch, der jedoch kompensatorischen Charakter habe, indem er die ursprünglich vorgenommene Besteuerung ausgleiche und die damals für ein bestimmtes Ereignis erhobene Steuer aufgrund eines späteren, entgegengesetzten Ereignisses zurückführe. Das rechtfertige es, den Anspruch bereits mit der Verwirklichung des Besteuerungstatbestands als insolvenzrechtlich begründet anzusehen.
Der BFH hält jetzt nicht mehr an dieser Rechtsprechung fest.
Für die Anwendung des § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO ist jetzt als entscheidend anzusehen, wann der materiell-rechtliche Berichtigungstatbestand des § 17 Abs. 2 UStG verwirklicht wird, die in dieser Vorschrift aufgeführten Tatbestandsvoraussetzungen also eintreten. Wird ein Berichtigungstatbestand des § 17 Abs. 2 UStG vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens verwirklicht, kann das FA Erstattungs-/Vergütungsansprüche des Steuerpflichtigen, die dadurch entstehen, gegen seine Steuerforderungen (Insolvenzforderungen) verrechnen, sonst nicht. Für diese Rechtsprechungsänderung war erklärtermaßen auch das Bestreben maßgeblich, die seit langem in dieser Frage bestehende Divergenz zu der Rechtsprechung des V. (Umsatzsteuer-)Senats des BFH zu beseitigen.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 25.7.2012 – VII R 29/11