Prof. Dr. Heinz-Jürgen Pezzer
Leitsatz
1. Die Haftung nach § 71 AO setzt u.a. voraus, dass der Tatbestand einer Steuerhinterziehung erfüllt ist.
2. Im Zusammenhang mit anonymisierten Kapitaltransfers ins Ausland setzt die Feststellung einer Steuerhinterziehung voraus, dass der jeweilige Inhaber des in das Ausland transferierten Kapitals daraus in der Folge Erträge erzielt hat, die der Besteuerung im Inland unterlagen, dass er z.B. unrichtige Angaben in seiner Steuererklärung gemacht, dadurch Steuern hinterzogen und dabei vorsätzlich gehandelt hat.
3. Kann das FG verbleibende Zweifel, ob und in welchem Umfang Steuerhinterziehungen begangen wurden, nicht ausräumen, muss es wegen der insoweit bestehenden Feststellungslast des FA zu dessen Lasten den Haftungstatbestand i.S.d. § 71 AO verneinen
Normenkette
§ 71 AO; § 96 Abs. 1 Satz 1 1. Halbsatz, § 118 Abs. 2 FGO
Sachverhalt
Der Kläger war Leiter der Wertpapieradministration bei einem großen deutschen Kreditinstitut, das an zwei gleichnamigen Auslandsgesellschaften in Luxemburg und der Schweiz beteiligt war. Der Kläger veranlasste und genehmigte nach Abstimmung mit der Revision sowie der Rechtsabteilung des Kreditinstituts zwei Anweisungen, die darauf gerichtet waren, den anonymen Transfer von Wertpapieren zu den Auslandstöchtern der Bank zu ermöglichen. Ergänzt wurde diese Regelung für sog. auslandsverwahrte Werte in der Weise, dass effektiv eingelieferte Werte "auch ohne Legitimationsprüfung entsprechend der Kundenangabe (z.B. Kennwort oder Kundennummer)" angenommen werden konnten. Auf die bis dahin einzuholende Aneignungsermächtigung gem. § 13 des Depotgesetzes sollte verzichtet werden können.
Das zuständige Finanzamt stellte anlässlich einer Außenprüfung fest, dass eine Vielzahl von Kunden der Bank und der beiden Tochtergesellschaften die Möglichkeit genutzt hatten, Kapital und Wertpapiere anonym über die Grenze zu den Tochtergesellschaften zu transferieren. Anstelle der personenbezogenen Kundendaten waren lediglich Referenznummern, Kundennummern, Depot-Kontennummern oder mit der Auslandsbank vereinbarte Kennworte auf den Transferbelegen vermerkt worden.
Trotz der Anonymisierung gelang es der Finanzverwaltung unter Mithilfe der Bank, etwa 75 % der Vorgänge einzelnen Kunden zuzuordnen. Die weiteren Ermittlungen ergaben, dass nahezu kein nachträglich enttarnter Kunde die Erträge aus den ins Ausland transferierten Wertpapieren in seiner Einkommensteuererklärung angegeben hatte. In etwa 6 % der Fälle hatte dies allerdings keine steuerverkürzende Wirkung. Die Identität der übrigen Kunden, die Bargeld und Wertpapiere anonym transferiert hatten, konnte nicht ermittelt werden.
Das FA nahm den Kläger wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung gem. § 71 AO in Haftung. Er und seine Mitarbeiter hätten ein System entwickelt und praktiziert, das es den Kunden der Bank erlaubt habe, Kapital anonym ins Ausland zu transferieren.
Die Haftungssumme errechnete das FA auf der Grundlage der Ermittlungsergebnisse in der Vergleichsgruppe der enttarnten Kunden. Die identifizierten Kunden hätten im Durchschnitt Kapitalerträge von 8 % p.a. erzielt. Der durchschnittliche Einkommensteuersatz dieser Kunden habe bei 35 % gelegen. Unter Berücksichtigung eines Sicherheitsabschlags von 25 % ergebe sich daraus in der Gruppe der nicht identifizierten Kunden eine bestimmte Summe an hinterzogener Einkommensteuer.
Die nach erfolglosem Einspruch erhobene Klage hatte Erfolg (FG Düsseldorf, Urteil vom 18.2.2010, 8 K 814/08 H): Der Kläger hafte nicht für die mögliche und auch wahrscheinliche, aber nicht mit hinreichender Sicherheit feststellbare Steuerhinterziehung durch anonym gebliebene Bankkunden. Die Tatsache des anonymen Kapitaltransfers in einer bestimmten Anzahl von Fällen und in einer bestimmten Höhe lasse keinen sicheren Schluss darauf zu, dass die 638 nicht enttarnten Wertpapierkunden Steuern hinterzogen hätten. Die fehlende Überzeugung des Gerichts gehe zulasten des FA. Das Gericht dürfe die fehlende Überzeugung nicht durch Wahrscheinlichkeitsurteile ersetzen. Dies würde zu einer unzulässigen Feststellungserleichterung zugunsten der Finanzverwaltung führen.
Entscheidung
Der BFH wies die Revision des FA als unbegründet zurück.
Die Auffassung des FA, zur Begründung der Haftung gem. § 71 AO reiche auch ohne entsprechende einzelfallbezogene tatsächliche Feststellungen schon eine hinreichend sichere Annahme einer Steuerhinterziehung i.S. einer gruppenbezogenen Betrachtung aus (hier der nicht enttarnten Kunden), finde im Gesetz keine Stütze. Diese Auffassung sei mit den aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleiteten Anforderungen an die Bestimmtheit von Eingriffsrecht und die grundsätzliche Bindung des Richters an das Gesetz unvereinbar. Sie liefe auf eine vom Gesetz nicht vorgesehene Gefährdungshaftung hinaus.
Auch der Umstand, dass der Kläger gerade durch das ihm zur Last gelegte Verhalten die Enttarnung der Bankkunden aktiv erschwert und zum Teil vereitelt habe, könne keine Ausweitung der Haftung über den gesetzlichen Tatbestand hinaus rechtfe...