Leitsatz
1. § 77 EStG ist bei einem erfolgreichen Einspruch gegen die Festsetzung von Hinterziehungszinsen wegen unberechtigt erhaltener Kindergeldzahlungen weder unmittelbar noch analog anwendbar.
2. Es liegt keine Regelungslücke im Sinne einer planwidrigen Unvollständigkeit vor, soweit § 77 EStG seinem Wortlaut nach eine Kostenerstattung nur für Einspruchsverfahren wegen Kindergeldfestsetzungen vorsieht.
Normenkette
§ 77 Abs. 1 Satz 1, § 74 Abs. 1 und 2, § 31 Satz 3 EStG, § 218, § 235, § 370, § 373 AO, § 63 SGB X
Sachverhalt
Die Familienkasse setzte gegen die Klägerin wegen einer zu Unrecht erfolgten Kindergeldzahlung i.H.v. 16.800 EUR Hinterziehungszinsen i.H.v. 2.163 EUR fest. Der Einspruch führte zur Aufhebung der Zinsfestsetzung durch Abhilfeentscheidung; zugleich entschied die Familienkasse, dass die im Einspruchsverfahren entstandenen Aufwendungen nicht zu erstatten seien.
Die nach erfolglosem Einspruchsverfahren eingelegte Klage hatte Erfolg. Das FG vertrat die Auffassung, § 77 Abs. 1 Satz 1 EStG sei auf den vorliegenden Fall analog anzuwenden (FG Bremen, Gerichtsbescheid vom 25.3.2021, 2 K 179/20 (3), Haufe-Index 14538742, EFG 2021, 1550).
Entscheidung
Der BFH hob das FG-Urteil auf und wies die Klage ab.
Hinweis
1. Das außergerichtliche Rechtsbehelfsverfahren im Rahmen der AO ist bekanntermaßen in verfassungsrechtlich zulässiger Weise kostenfrei und kennt demgemäß grundsätzlich auch keine Kostenerstattungspflicht. § 77 Abs. 1 Satz 1 EStG bildet eine Ausnahme von diesem Grundsatz: Die Familienkasse hat dem Einspruchsführer die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen zu erstatten, soweit der Einspruch gegen die Kindergeldfestsetzung erfolgreich ist.
2. Wird die Festsetzung von Kindergeld-Hinterziehungszinsen im Einspruchsverfahren aufgehoben, so ist § 77 Abs. 1 Satz 1 EStG nach seinem Wortlaut nicht anwendbar, da es an einem erfolgreichen Einspruch gegen die Kindergeldfestsetzung fehlt. Denn bei einem Streit über Hinterziehungszinsen nach § 235 AO geht es nicht um die Kindergeldfestsetzung, sondern um das Vorliegen einer vollendeten Steuerhinterziehung (§§ 370, 373 AO).
Daher fehlt es z.B. auch an einem zur Kostenerstattung führenden erfolgreichen Einspruch gegen die Kindergeldfestsetzung, wenn eine Billigkeitsentscheidung getroffen wird (BFH, Beschluss vom 9.12.2010, III B 115/09, Haufe-Index 2602126, BFH/NV 2011, 434).
3. Mangels einer planwidrigen Gesetzeslücke lehnt der BFH eine extensive (analoge) Anwendung des § 77 Abs. 1 Satz 1 EStG ab. Dies wird anhand der Gesetzeshistorie begründet: Als das Kindergeld noch im Sozialrecht angesiedelt war, wurden die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Auslagen nach § 63 Abs. 1 Satz 1 SGB X erstattet. Mit der Neuregelung des einkommensteuerrechtlichen Kindergelds durch das JStG 1996 sollte mit § 77 EStG eine entsprechende Vorschrift geschaffen werden. Das erforderte eine Gleichstellung nur im Hinblick auf die Leistungsgewährung im weitesten Sinne. Der Gesetzgeber hat es damals nicht planwidrig unterlassen, die Kostenerstattungspflicht auch auf Fälle auszudehnen, die mit der Kindergeldfestsetzung an sich nichts zu tun haben.
4. Soweit die Rechtsprechung § 77 EStG ausnahmsweise erweiternd (analog) ausgelegt hat, umfasst dies nur Fälle, in denen der Verfahrensgegenstand mit einer Kindergeldfestsetzung zusammenhing, z.B. Ablehnungs-, Aufhebungs- und Rückforderungsbescheide, Untätigkeitseinsprüche mit dem Ziel einer Kindergeldfestsetzung oder Abzweigungsbescheide nach § 74 EStG.
Auch die analoge Anwendung des § 77 EStG bei der Anfechtung eines Abrechnungsbescheids nach § 218 AO beruht darauf, dass die Auswirkungen einer Abzweigungsentscheidung und eines Abrechnungsbescheids wegen des Erstattungsanspruchs eines Sozialleistungsträgers (§ 74 Abs. 2 EStG) sich gleichen, da in beiden Fällen das zugunsten des Kindergeldberechtigten festgesetzte Kindergeld an einen Dritten ausgezahlt wird (BFH, Urteil vom 23.6.2015, III R 31/14, Haufe-Index 8400308, BFH/NV 2015, 1494, BStBl II 2016, 26, Rz. 19).
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 1.9.2021 – III R 18/21