Leitsatz
Eine Überprüfung bestandskräftiger, nachträglich als unionsrechtswidrig erkannter Entscheidungen nach dem Ermessen der Verwaltungsbehörde ist nicht auch dann geboten, wenn der betreffende Bescheid wegen vermeintlich geklärter Rechtslage nicht zur Überprüfung des in letzter Instanz entscheidenden nationalen Gerichts gestellt worden ist. Weder § 48 VwVfG noch das Unionsrecht verbieten es der Verwaltungsbehörde, eine nachträgliche Änderung eines solchen Bescheides deshalb abzulehnen, weil der Betroffene diesen habe bestandskräftig werden lassen, ohne die Entscheidung des letztinstanzlich entscheidenden nationalen Gerichts einzuholen.
Normenkette
§ 48 Abs. 1 VwVfG
Sachverhalt
Einem Exporteur war vom HZA Ausfuhrerstattung für einen Rindfleischexport gewährt worden. 1994 wurde diese jedoch zurückgefordert, weil die Vermarktung der Ware im Bestimmungsland nicht nachgewiesen worden war. Das aufgrund des Einspruchs der Klägerin eingeleitete Rechtsbehelfsverfahren wurde auf Anregung des HZA einvernehmlich zum Ruhen gebracht, weil bei dem FG bereits ein Klageverfahren wegen einer ähnlich gelagerten Streitsache anhängig war. Nachdem die Klage in diesem Verfahren abgewiesen und die Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision gegen das betreffende Urteil des FG vom BFH zurückgewiesen worden war, wies das HZA den Einspruch zurück. Klage dagegen wurde nicht erhoben. Erst als der EuGH eine Entscheidung fällte (Urteil vom 21.7.2005, C-515/03, Eichsfelder Schlachtbetrieb, Slg. 2005, I 7355), aufgrund derer der Exporteur meinte, der Rückforderungsbescheid sei rechtswidrig gewesen, meldete er sich beim HZA und verlangte, den Rückforderungsbescheid zurückzunehmen. Das HZA hat dies abgelehnt, weil eine Korrektur bestandskräftiger Entscheidungen, die im Widerspruch zum Unionsrecht stehen, nur in Betracht komme, wenn der Betroffene den Rechtsweg ausgeschöpft hat.
Die daraufhin erhobene Klage hatte indes mit dem Ergebnis Erfolg, dass das FG das HZA verpflichtete, den Rücknahmeantrag erneut zu bescheiden.
Entscheidung
Der BFH hat das Urteil des FG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Entscheidend auf die unterlassene Ausschöpfung des Rechtswegs abzustellen, ist nicht ermessensfehlerhaft.
Hinweis
1. Das Unionsrecht respektiert das Institut der Bestandskraft; es verlangt also grundsätzlich nicht, dass die Behörde eine Verwaltungsentscheidung zurücknimmt, die bestandskräftig geworden ist. Handlungen der Verwaltung, die Rechtswirkungen entfalten, dürften nämlich nicht unbegrenzt infrage gestellt werden.
Allerdings soll nach der Rechtsprechung des EuGH eine Behörde bei Bestehen einer nationalen Vorschrift, die eine Änderung bestandskräftiger Bescheide ermöglicht, deren Änderung prüfen, wenn sie aufgrund nachfolgender Rechtsprechung des EuGH erkennt, dass diese mit dem Unionsrecht nicht vereinbar sind (EuGH-Urteil Kühne & Heitz in Slg. 2004, I‐837). Das gebiete der Grundsatz der Zusammenarbeit zwischen Union und Mitgliedstaat jedoch nur unter vier Voraussetzungen, deren eine lautet, dass die Verwaltungsentscheidung infolge eines Urteils eines in letzter Instanz entscheidenden nationalen Gerichts (also nach Ausschöpfung des Rechtswegs) bestandskräftig geworden ist. In seinem Urteil vom 19.9.2006, C‐392/04 – i‐21 Germany und Arcor – (Slg. 2006, I‐8559) hat der EuGH die Bedeutung dieser Voraussetzung bekräftigt.
Daraus erhellt, dass die Überprüfungspflicht der Behörde die (zumindest zu vermutende) Verletzung der Vorlagepflicht des Art. 237 AEUV gleichsam kompensieren soll, an der das Verfahren hinsichtlich der ohne die gebotene Befragung des EuGH bestandskräftig gewordenen Entscheidung leidet.
2. Auf Ausfuhrerstattungsverfahren (Subventionsverfahren) ist das VwVfG anwendbar. Es gestattet in § 48 die Rücknahme bestandskräftiger belastender Bescheide, stellt die Entscheidung darüber aber grundsätzlich ins Ermessen der Behörde. In weiterem Umfang als Steuerbescheide sind sie also änderbar, sodass vorgenannte EuGH-Rechtsprechung also insofern eingreift.
3. Aber wie steht es mit dem Erfordernis der Ausschöpfung des Rechtswegs? Ist an dieser Voraussetzung auch dann festzuhalten, wenn die maßgeblichen (Unions-)Rechtsfragen anderweit, nämlich in einem Parallel- oder gar Musterverfahren, geklärt erschienen? Der BFH hat das bejaht, eine erweiternde Anwendung eingangs bezeichneter EuGH-Rechtsprechung auf solche Fälle also abgelehnt. Wer sich – wie im Streitfall – mit der Entscheidung des letztinstanzlich berufenen nationalen Gerichts zufrieden gibt, soll später keine Rücknahme eines bestandskräftig gewordenen Bescheides verlangen können, weil er nunmehr erkannt hat, dass der EuGH hätte befragt werden müssen (und dann der Bescheid sogleich als rechtswidrig erkannt worden und nicht bestandskräftig geworden wäre).
4. Liest man das FG-Urteil (FG Hamburg, Urteil vom 15.4.2009, 4 K 396/07, Haufe-Index 2187092), ist man nicht ganz sicher, ob dieses die Rechtslage wirklich ganz anders eingeschätzt hat. Oder handelte es sich bei dem Lavieren mit angeblichen Ermes...