Leitsatz
Die Festsetzungsfrist ist nicht gem. § 169 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 AO gewahrt, wenn der Steuerbescheid, der vor Ablauf der Festsetzungsfrist den Bereich der für die Steuerfestsetzung zuständigen Finanzbehörde verlassen hat, dem Empfänger nicht zugeht.
Normenkette
§ 169 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 AO
Sachverhalt
Das FA hatte im Jahr 1989 einen Bescheid über die Feststellung des Einheitswerts eines Grundstücks auf den 1.1.1987 zur Post gegeben, der dem Steuerpflichtigen nicht zuging, obwohl das FA nach Lage der Steuerakten alles getan hatte, dass er hätte zugehen können. Als sich dies Jahre später und – bezogen auf den Bewertungsstichtag – nach Ablauf der Feststellungsfrist herausstellte, übersandte das FA noch einmal einen inhaltsgleichen Bescheid, der dem Steuerpflichtigen auch zuging.
Während der Kläger der Ansicht war, der Bescheid sei wegen Eintritts der Feststellungsverjährung und mangels eines Hinweises nach § 181 Abs. 5 Satz 2 AO rechtswidrig, vertraten das FA und FG unter Berufung auf die neuere Rechtsprechung des BFH die Ansicht, für die Fristwahrung nach § 169 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 AO sei unerheblich, ob der rechtzeitig abgesandte Bescheid dem Steuerpflichtigen zugehe. Sollte dies nicht der Fall sein, müsse allerdings nach Ablauf der Frist ein zweiter und diesmal erfolgreicher Bekanntgabeversuch unternommen worden sein. Das sei vorliegend geschehen.
Auf die Revision des Klägers rief der zuständige Senat des BFH den großen Senat an (BFH-PR 2001, 352), weil er die neuere Rechtsprechung des Hauses zu § 169 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 AO für verfehlt hielt.
Entscheidung
Der Große Senat schließt sich dem vorlegenden Senat an. Nach dem Wortlaut, dem Sinn und Zweck sowie der Entstehungsgeschichte des § 169 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 AO soll die Wahrung der Festsetzungs- bzw. Feststellungsfrist lediglich vom Zeitpunkt der Bekanntgabe – und damit von der Dauer des Bekanntgabevorgangs – unabhängig sein, nicht aber von der Bekanntgabe des rechtzeitig abgesandten Bescheids als solcher. Dieses gesetzgeberische Ziel wird erreicht, indem die Fristwahrung an die rechtzeitige Absendung des Bescheids – d.h. eine Absendung noch innerhalb der Frist – geknüpft wird.
Stets muss aber hinzukommen, dass der rechtzeitig abgesandte Bescheid auch tatsächlich zugegangen ist. Ein nach Fristablauf unternommener und erfolgreicher zweiter Bekanntgabeversuch ändert an einer bereits eingetretenen Verjährung nichts mehr.
Hinweis
Mit dieser Entscheidung des Großen Senats ist eine Rechtsprechung, die völlig überraschend mit Urteil vom 31.10.1989, VIII R 60/88 (BStBl II 1990, 518) begann und einem nicht zugegangenen Bescheid – also einem Nichtakt – entgegen den §§ 122 Abs. 1 Satz 1 und 155Abs. 1 Satz 2 AO Frist wahrende Bedeutung beimaß, aufgegeben worden.
Wie lange die Freude darüber dauern wird, bleibt abzuwarten. Möglicherweise wird der Gesetzgeber die AO bald im Sinn der aufgegebenen Rechtsprechung ändern. Große rechtsstaatliche Bedenken werden ihn daran kaum hindern, nachdem etwas Derartiges bereits einmal die Weihen höchstrichterlicher Rechtsprechung gefunden hatte.
Link zur Entscheidung
BFH, Beschluss vom 25.11.2002, GrS 2/01