Unter den Begriff "Jahresabschlussanalyse" fasst man alle Verfahren der Informationsgewinnung und Informationsverdichtung aus Jahresabschlüssen zusammen, die dazu dienen, die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage eines Unternehmens darzustellen und zu interpretieren. Mithilfe von Zahlen aus der Vergangenheit und ergänzenden Informationen aus dem Anhang wird die bisherige Entwicklung des Unternehmens transparent gemacht. Auf Grundlage dieser bisherigen Trends der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage wird die künftige Entwicklung prognostiziert.
Fallstudien aus 4 Branchen
Die Formeln für die Berechnung der wichtigsten Kennzahlen können Abb. 12 am Ende dieses Beitrages entnommen werden. Dieser Artikel hat das Ziel, die praktische Anwendung der Jahresabschlussanalyse anhand von 4 Unternehmen zu demonstrieren. Abb. 1 zeigt die Bilanz, Abb. 2 die Gewinn- und Verlustrechnung dieser 4 Unternehmen unterschiedlicher Branchen:
- Einzelhandelskette (Supermärkte),
- Anlagenbauer (Projektfertigung),
- Konsumgüterproduzent (z. B. Waschmittel),
- Softwareunternehmen.
BILANZ (in Mio.) |
Einzelhandelskette |
Anlagenbauer |
Konsumgüterproduzent |
Softwareunternehmen |
|
|
|
|
|
Immaterielles AV |
0,00 |
8,00 |
7,00 |
31,00 |
Sach-AV |
53,50 |
16,60 |
19,00 |
12,80 |
Finanz-AV |
0,00 |
0,00 |
3,00 |
32,00 |
Summe AV |
53,50 |
24,60 |
29,00 |
75,80 |
Rohmaterial |
0,50 |
4,60 |
2,60 |
1,20 |
Halbfertige Produkte |
0,00 |
39,00 |
4,70 |
2,70 |
Fertigwaren |
38,00 |
6,90 |
29,00 |
4,60 |
Forderungen LL |
1,90 |
20,70 |
33,20 |
7,70 |
Liquide Mittel |
6,10 |
4,20 |
1,50 |
8,00 |
Summe UV |
46,50 |
75,40 |
71,00 |
24,20 |
AKTIVA |
100,00 |
100,00 |
100,00 |
100,00 |
|
|
|
|
|
Eigenkapital |
28,30 |
28,60 |
32,40 |
63,10 |
Langfristige Verbindlichkeiten |
33,30 |
45,80 |
32,00 |
24,70 |
Verbindlichkeiten LL |
28,40 |
5,00 |
22,00 |
10,80 |
Sonstige kurzfristige Verbindlichkeiten |
10,00 |
20,60 |
13,60 |
1,40 |
Fremdkapital |
71,70 |
71,40 |
67,60 |
36,90 |
PASSIVA |
100,00 |
100,00 |
100,00 |
100,00 |
Abb. 1: Bilanz der 4 untersuchten Unternehmen
GEWINN- UND VERLUSTRECHNUNG (in Mio.) |
Einzelhandelskette |
Anlagenbauer |
Konsumgüterproduzent |
Softwareunternehmen |
|
|
|
|
|
Umsatzerlöse |
1.070,00 |
180,00 |
440,00 |
300,00 |
Material-AW; Wareneinsatz |
–769,70 |
–53,50 |
–162,80 |
–27,00 |
Personalaufwand |
–134,00 |
–101,00 |
–106,60 |
–150,00 |
Abschreibungen |
–4,50 |
–4,20 |
–4,20 |
–4,30 |
Marktingaufwand |
–150,00 |
–3,00 |
–152,70 |
–90,00 |
Betriebsergebnis (BE) |
11,80 |
18,30 |
13,70 |
28,70 |
Finanzerträge |
0,00 |
0,00 |
0,45 |
6,40 |
Zinsaufwand |
–5,20 |
–5,84 |
–4,10 |
–2,35 |
Finanzergebnis |
-5,20 |
-5,84 |
-3,65 |
4,05 |
Steuern |
–1,65 |
–3,11 |
–2,51 |
–8,19 |
Jahresüberschuss |
4,95 |
9,34 |
7,53 |
24,56 |
|
|
|
|
|
EBITDA (= BE + Abschreibungen) |
16,30 |
22,50 |
18,35 |
39,40 |
EBIT (= BE + Finanzerträge) |
11,80 |
18,30 |
14,15 |
35,10 |
|
|
|
|
|
Zusatzinformationen |
|
|
|
|
Mitarbeiter |
4.000 |
1.500 |
2.200 |
1.500 |
Investitionen (in Mio. EUR) |
3,5 |
4,0 |
11,8 |
8,0 |
Durchschnittlicher FK-Zinssatz |
12,0 % |
8,8 % |
9,0 % |
9,0 % |
Ertragsteuersatz |
25 % |
25 % |
25 % |
25 % |
Umsatzsteuersatz |
19 % |
19 % |
19 % |
19 % |
Abb. 2: GuV der 4 untersuchten Unternehmen
Normierung zu Vergleichszwecken
Die 4 Unternehmen sind zu Vergleichszwecken so normiert worden, dass die Bilanzsumme jeweils 100 Millionen beträgt. Es handelt sich also um große Konzerne. Natürlich funktioniert die Analyse genau so gut mit Unternehmen, die eine Bilanzsumme von 100.000 oder einer Million haben. Die Zahlen sind durch die Normierung auf 100 Millionen allerdings leichter tabellarisch darstellbar. Das Zahlenwerk ist von existierenden Unternehmen dieser Branchen inspiriert, jedoch werden keine echten Abschlusszahlen verwendet.
Who is who?
Die Branchenzugehörigkeit hat wesentlichen Einfluss auf die Struktur des Jahresabschlusses. Versuchen Sie, den Tabellenkopf abzudecken und zu erraten, welche Spalte zu welchem Unternehmen gehört. Es wird ihnen sicherlich gelingen! Aus der Verteilung der Vermögenspositionen sowie aus der Struktur der Gewinn- und Verlustrechnung lassen sich Indizien für diese Zuordnung ableiten.
1.1 Einzelhandelskette
Typisch für ein Handelsunternehmen ist das Fehlen von Halbfabrikaten, auch Rohmaterialien sind kaum zu finden. Die Forderungen sind außerordentlich gering, Kunden zahlen entweder bar oder über Kredit- oder Debitkarten (und in diesen Fällen mit außerordentlich kurzen Fristen). Bei den Aufwendungen dominiert der Wareneinsatz, auch der Marketingaufwand ist hoch.
1.2 Anlagenbauer
Projektorientierte Fertigung mit langen Durchlaufzeiten zeichnet sich durch einen hohen Anteil an halbfertigen Produkten (unfertigen Aufträgen) aus. Der Forderungsbestand ist hoch, einerseits wegen langer Zahlungsziele, andererseits weil in diesem Geschäft Reklamationen (und damit Zahlungsverzögerungen) häufiger sind als in anderen Branchen. Der Marketingaufwand ist sehr niedrig; Kunden müssen nicht über teure Kommunikationskanäle erreicht werden, sondern werden direkt angesprochen.
1.3 Konsumgüterproduzent
Konsumgüterproduzenten zeichnen sich durch einen hohen Fertigwarenbestand aus. Sie sind – bei raschem Warenumschlag – auf hohe Lieferbereitschaft bedacht und nicht der Mode oder raschem technischem Fortschritt unterworfen, so dass keine Abwertungsgefahr besteht. Die Forderungen sind hoch, Kunden sind Handelsketten, die über große Verhandlungsmacht verfügen und daher...