Leitsatz
Ein in Deutschland lebender Vater, der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts bezieht, hat Anspruch auf Kindergeld für sein bei der keine Erwerbstätigkeit ausübenden Kindsmutter in Litauen lebendes minderjähriges Kind. Die in Art. 60 Abs. 1 S. 2 der DVO (EG) Nr. 987/2009 getroffene Regelung bezweckt nicht, dem Anspruchsinhaber einen bestehenden Kindergeldanspruch unter Hinweis auf seine Familienangehörigen zu versagen.
Sachverhalt
Im Streitfall vertrat die Familienkasse die Auffassung, der Kläger habe zwar grundsätzlich Anspruch auf deutsches Kindergeld. Gleichzeitig stünden der Kindesmutter jedoch Leistungen in Litauen zu. Die Anspruchskonkurrenz sei anhand der Koordinierungsregelungen der EU zu lösen. Hiernach sei maßgeblich, ob in den betreffenden Staaten eine Erwerbstätigkeit ausgeübt beziehungsweise eine Rente bezogen werde. Da weder der Kläger noch die Kindesmutter eine Erwerbstätigkeit ausübten und auch keine Rente bezögen, bestehe allein im Wohnsitzstaat des Kindes ein Anspruch auf Familienleistungen. Mit seiner Klage trägt der Kläger vor, die Kindesmutter sei in Litauen selbstständig tätig. Er überweise das Kindergeld stets an seine Tochter.
Entscheidung
Das Finanzgericht hat entschieden, dass der Kläger die für die Gewährung von Kindergeld erforderlichen Anspruchsvoraussetzungen erfüllt, weil er einen Wohnsitz im Inland hatte, und seine Tochter Kind des Klägers im Sinne der §§ 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 32 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 3 EStG mit Wohnsitz in Litauen, also in einem Mitgliedstaat der EU (§ 63 Abs. 1 Satz 3 EStG) war. Der Kindergeldanspruch in Deutschland steht trotz Aufnahme des Kindes in den Haushalt der Kindesmutter dem Kläger und nicht der Kindesmutter zu. Allein er war nach den Vorschriften des Einkommensteuergesetztes kindergeldberechtigt. Es ist zudem nicht ersichtlich, dass ein Anspruch der Kindesmutter gemäß § 1 BKGG bestehen könnte. Die in § 64 Abs. 2 EStG beziehungsweise § 3 Abs. 2 Satz 1 BKGG im Falle mehrerer Berechtigter vorgesehene Auswahl kommt daher nicht in Betracht. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus zwischenstaatlichen Rechtsvorschriften. Das Gericht folgt der von den Finanzgerichten ganz überwiegend vertretenen Auffassung, dass die in der DVO (EG) Nr. 987/2009 getroffene Regelung nicht bezweckt, einen bestehenden Kindergeldanspruch unter Hinweis auf Familienangehörige zu versagen.
Hinweis
Das Finanzgericht hat die Revision zugelassen (V R 19/15), da zur Auslegung des Art. 60 Abs. 1 Satz DVO (EG) Nr. 987/2009 bereits mehrere Revisionsverfahren anhängig sind. In vergleichbaren Fällen sollten Betroffene das Verfahren durch einen Einspruch offen halten.
Link zur Entscheidung
FG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 22.04.2015, 10 K 10044/12