Ingo Heuel, Dr. Brigitte Hilgers-Klautzsch
a) Allgemeines
Rz. 64
Nach § 2 Abs. 3 StGB ist das mildeste Gesetz anzuwenden, wenn das Gesetz, das bei Beendigung der Tat gilt, vor der Entscheidung geändert wird. Bestraft wird also nach dem Gesetz, das die geringere Strafe androht. Täterbegünstigende Gesetzesänderungen sind folglich rückwirkend zu berücksichtigen. Nach Auffassung des EGMR garantiert Art. 7 EMRK (keine Strafe ohne Gesetz) in Übereinstimmung mit Art. 49 Abs. 1 Satz 3 GRCh nicht nur, dass strengere Strafvorschriften nicht rückwirkend angewendet werden dürfen, sondern auch, dass mildere Strafgesetze rückwirkend anzuwenden sind. Die günstigere Regelung ist nach der ausdrücklichen Regelung des § 2 Abs. 4 Satz 1 StGB allerdings dann nicht anwendbar, wenn ein Gesetz nur für eine bestimmte Zeit gelten soll und es um Taten geht, die während seiner Geltung begangen wurden.
Rz. 65
Ob ein milderes Gesetz vorliegt, ist nach h.M. unter Berücksichtigung des gesamten Rechtszustandes zu bestimmen. Zu prüfen ist jeweils das Gesetz als Ganzes. Es ist damit nicht zulässig, dem Angeklagten günstige Elemente aus Gesetzen verschiedener Gültigkeit zu kombinieren. Der Günstigkeitsvergleich des § 2 Abs. 3 StGB hat damit nicht nur Bedeutung für die Strafzumessung, während sich der Schuldspruch stets nach dem Tatzeitrecht (§ 2 Abs. 1 StGB) richten müsste, sondern das mildere Gesetz ist in seiner Gesamtheit anzuwenden, wobei eine Vergleichsbetrachtung des konkreten Einzelfalls geboten ist. Im Steuerstrafrecht ist die Frage, welches Gesetz als das mildere anzusehen war, für das Verhältnis der gewerbs- und bandenmäßigen Steuerhinterziehung (§ 370a AO a.F.) zum Schmuggel (§ 373 AO) praktisch geworden.
Rz. 66
Milder ist selbstverständlich auch ein Gesetz, das für die fragliche Tat gar keine Strafbarkeit vorsieht. Für das Strafanwendungsrecht nach §§ 3–7 StGB gilt § 2 Abs. 3 StGB ebenfalls.
Rz. 67
Längere Verjährungsvorschriften unterliegen nach h.M. nicht dem Rückwirkungsverbot, da sie nicht die Strafdrohung an sich, sondern lediglich das "Ob" der Verfolgung berühren. Deshalb sind sie grds. auch auf zurückliegende Taten anzuwenden, wenn für diese zum Zeitpunkt der Gesetzesänderung noch keine Verjährung eingetreten war. Die Frage der Verjährung ist daher grds. anhand der gesetzlichen Regeln zu beurteilen, die im Zeitpunkt der Entscheidung gelten.
Das ist jedoch dann anders, wenn die Verlängerung der Verjährungsfristen darauf beruht, dass nachträglich die der Berechnung der Verjährung nach § 78 Abs. 3 StGB zugrunde liegenden Höchststrafen verschärft wurden. Insoweit gilt auch für die Verjährung das günstigere materielle Recht der Tatzeit, da die Verschärfung der Strafdrohung nach § 2 Abs. 3 StGB außer Betracht bleibt. Damit ist entscheidend, ob bei Zugrundelegung des zur Tatzeit geltenden materiellen Strafrechts die Strafverfolgung auch nach den zum Zeitpunkt der Aburteilung geltenden Verjährungsvorschriften verjährt ist. Der BGH geht davon aus, dass der Umstand, dass das Regelbeispiel des § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO bis zur Änderung durch Gesetz vom 21.12.2007 zum Zeitpunkt der Beendigung der zu beurteilenden Tat enger gefasst war – es enthielt noch das einschränkende Merkmal des Handelns aus grobem Eigennutz –, der Anwendung der verlängerten Verjährungsfrist des § 376 Abs. 1 AO nicht entgegensteht, selbst wenn das Tatgericht nicht aus § 370 Abs. 3 AO verurteilt hat. Maßgeblich sei allein, dass die Voraussetzungen des § 376 Abs. 1 AO vorlägen und die Tat zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Verjährungsvorschrift noch nicht verjährt sei (s. § 376 Rz. 26). Sonstige Änderungen des Verfahrensrechts, selbst wenn diese Einfluss auf die Verfolgbarkeit der Tat haben, sind für § 2 Abs. 3 StGB ebenfalls ohne Bedeutung, so bspw. der Wegfall eines Strafantragserfordernisses.
Rz. 68
Wird ein Qualifikationstatbestand in ein Regelbeispiel für einen besonders schweren Fall umgewandelt, gilt die "neue", für den Täter günstigere Verjährungsregelung. Das trifft auch dann zu, wenn der Strafrahmen der Höhe nach an sich gleich bleibt. Denn nach § 78 Abs. 4 StGB richtet sich die Verjährungsfrist nach der Strafdrohung ohne Rücksicht auf Schärfungen für besonders schwere Fälle. § 376 Abs. 1 AO trifft aber eine spezielle Regelung für § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1–6 AO.
Rz. 69
Nach h.A., die § 370 AO als Blanketttatbestand begreift (s. Rz. 20 ff.), bezieht sich § 2 Abs. 3 StGB unproblematisch auf die in Bezug genommenen steuerlichen Gesetze. Auch Änderungen der blankettausfüllenden (steuerlichen) Normen sind danach Teil des anzuwendenden Gesetzes i.S.d. § 2 Abs. 3 StGB. Ursprünglich hatte das RG unter Zustimmung des BGH allerdings für den Bereich von Blankettgesetzen die § 2 Abs. 3 StGB entsprechende Bestimmung des § 2 Abs. 2 Satz 2 StGB a.F. so ausgelegt, dass Änderungen der das Blankett ausfüllenden Norm nicht zur Bestimmung...