Ingo Heuel, Dr. Brigitte Hilgers-Klautzsch
Rz. 874
Eine besondere Rolle spielte in der praktischen Rechtsanwendung über viele Jahrzehnte das Rechtsinstitut des Fortsetzungszusammenhangs. Mehrere Handlungen, die bei unvoreingenommener Betrachtung jeweils selbständig zur Verwirklichung eines Straftatbestands führten, wurden als fortgesetzte Handlung zu einer rechtlichen Einheit und damit zu einer einzigen Verletzung des Strafgesetzes zusammengefasst (s. Rz. 862 f.). Voraussetzungen dafür waren die Verletzung desselben Rechtsguts, eine gleichartige Begehungsweise sowie ein einheitlicher Entschluss in Bezug auf die Gesamttat. Häufig wurde allein aufgrund des Umstands, dass über einen längeren Zeitraum hinweg Steuererklärungen oder -voranmeldungen unrichtig oder überhaupt nicht abgegeben wurden, auf das Vorliegen einer fortgesetzten Tat geschlossen. Da die Verjährung der einheitlichen Tat erst mit Beendigung des letzten Teilakts begann, wurden die Regelungen der Strafverfolgungsverjährung unterlaufen. In Extremfällen wurden Steuerhinterziehungen über 27, 16, 14 und 13 Jahre zu jeweils einer einzigen Straftat zusammengefasst. Erschwerend kam hinzu, dass durch die daran anknüpfende Ablaufhemmung der steuerlichen Festsetzungsverjährung (§ 169 Abs. 1 Satz 4, § 171 Abs. 7 AO) die Festsetzungsfristen bei hinterzogenen Steuern über Gebühr verlängert wurden.
Rz. 875
Die Abkehr von diesem Rechtsinstitut vollzog der BGH in zwei Schritten (s. auch § 378 Rz. 156, 157). Für das Steuerverfahrensrecht schloss sich dem der BFH an. Den ersten Schritt unternahm der Große Senat für Strafsachen im Mai 1994. Danach setzt die Annahme einer fortgesetzten Handlung voraus, dass dies zur sachgerechten Erfassung des verwirklichten Unrechts und der Schuld unumgänglich sei, was insb. bei § 263 StGB nicht der Fall sei. Den zweiten Schritt tat der 5. Strafsenat, der die Vorteile, die die Rechtsfigur der fortgesetzten Tat habe (keine Einzelstrafen bei der Strafzumessung), als nicht ausreichend ansah, um sie für § 370 AO beizubehalten, selbst wenn zukünftig die Tatgerichte häufig gehalten seien, "Hunderte von Einzelstrafen auszuwerfen":
„Für den Tatbestand der Steuerhinterziehung wird nicht an der Rechtsfigur der fortgesetzten Tat festgehalten (im Anschluss an BGH, Beschl. v. 3.5.1994 – GSSt 2 und 3/93 –). [...] Insoweit handelt es sich um ein allgemeines Problem des Strafrechts, das für Steuerstrafsachen nicht anders beantwortet werden kann als für die übrigen Bereiche des materiellen Strafrechts.
Danach kommt im Ergebnis die Verbindung mehrerer Verhaltensweisen, die jede für sich einen Straftatbestand erfüllen, zu einer fortgesetzten Handlung nur dann in Betracht, wenn dies, was am Straftatbestand zu messen ist, zur sachgerechten Erfassung des verwirklichten Unrechts und der Schuld unumgänglich ist (Beschluss des Großen Senats für Strafsachen des Bundesgerichtshofs vom 3. Mai 1994 aaO). Diese Voraussetzung liegt jedenfalls bei den Tatbeständen der Steuer- und Eingangsabgabenhinterziehung nach § 370 Abs. 1 AO nicht vor. Die Tathandlungen bei der Steuerhinterziehung sind den Tathandlungen des Betrugs vergleichbar und in gleicher Weise voneinander abgrenzbar. Maßgeblich sind die zugrunde liegenden, die Blankettnorm des § 370 AO ausfüllenden steuerrechtlichen Vorschriften. Das gleiche gilt, soweit der Tatbestand durch Unterlassen entgegen steuerlichen Pflichten erfüllt wird.”
Rz. 876– 878
Einstweilen frei.