Ingo Heuel, Dr. Brigitte Hilgers-Klautzsch
Rz. 665
Bei einer Unterlassungstat kann sich der Irrtum auch darauf beziehen, dass der Täter seine rechtliche Verpflichtung zum Handeln nicht kennt. Da die "Pflichtwidrigkeit" ausdrücklich im Tatbestand des § 370 Abs. 1 Nr. 2 und 3 AO genannt ist, spricht dies zunächst dafür, dass sich auch der Vorsatz darauf beziehen muss, der Täter also wissen muss, dass er entgegen seinen steuerrechtlichen Pflichten (s. Rz. 288 ff.) Erklärungen bzw. die Verwendung von Steuerzeichen oder Steuerstemplern unterlässt. Das entspricht zudem dem Verständnis des § 266a StGB, der voraussetzt, dass der Täter die Pflicht kennt, Sozialversicherungsabgaben abzuführen (s. Rz. 662.1). Das Verkennen einer steuerlichen Erklärungs- oder Handlungspflicht ist nach dieser Auffassung als vorsatzausschließender Tatbestandsirrtum anzusehen.
Rz. 666
Dass nach der gerade genannten Meinung (s. Rz. 665) Kenntnisse des Täters über die steuerrechtliche Pflichtenstellung erforderlich sind, um Vorsatz bejahen zu können, ist jedenfalls kein überzeugendes Gegenargument, da auch der Vorsatz auf die Steuererheblichkeit von Tatsachenangaben und die Herbeiführung des Verkürzungserfolgs solche Kenntnisse voraussetzt (s. Rz. 660). Das Umweltstrafrecht ist in vergleichbarer Weise wie das Steuerstrafrecht von den Regeln des Umweltverwaltungsrechts abhängig. Der dort in manchen Tatbeständen vorausgesetzte "Verstoß gegen verwaltungsrechtliche Pflichten" wird ebenfalls als Tatbestandsmerkmal begriffen, das vom Vorsatz umfasst sein muss.
Rz. 667
Da im allgemeinen Strafrecht nur die tatsächlichen Umstände, die eine Rechtspflicht zur Abwendung eines straftatbestandlichen Erfolgs nach § 13 Abs. 1 StGB (s. Rz. 221 ff.) begründen, vom Vorsatz erfasst sein müssen, nicht dagegen die sich aus diesen Umständen ergebende Pflicht selbst, gehen die Rspr. und Teile der Lit. dennoch davon aus, dass Gleiches im Steuerstrafrecht gilt. Danach ist nur der Irrtum über die tatsächlichen Umstände, die eine Erklärungs- oder Verwendungspflicht begründen, Tatumstandsirrtum, während der Irrtum über die Pflicht selbst Verbotsirrtum nach § 17 StGB ist.
Rz. 668
Derjenige, der davon ausgeht, dass ihm rechtlich keine Pflicht zur Erfolgsabwendung i.S.d. § 13 StGB obliegt, oder der eine solche Rechtspflicht nicht kennt, irrt notwendig immer über das Verbotensein seines Unterlassens. Er meint, sein Untätigbleiben sei erlaubt und kein Unrecht. Das aber ist ein Irrtum, der die Gesamtbewertung der Tat betrifft und nach § 17 StGB zu behandeln ist, wenn er sich nicht auf tatsächliche Umstände bezieht (s. Rz. 646, 676). Das Gleiche trifft in Übereinstimmung mit der Auffassung der Rspr. auch für § 370 Abs. 1 Nr. 2 und 3 AO zu. So meint etwa derjenige, der nicht weiß, dass er Steuerzeichen zu verwenden hat, sein Verhalten sei erlaubt. Da der Täter ohnehin wissen muss, dass der Hinterziehungserfolg durch sein Unterlassen eintreten wird(!), um Vorsatz annehmen zu können (s. Rz. 660), entsteht kein Widerspruch zur Lösung bei § 266a StGB (s. Rz. 662.1). Unter dieser Voraussetzung besteht wie im allgemeinen Strafrecht auch besonderer Anlass, sich um die steuerlichen Pflichten und damit darum zu kümmern, ob man selbst tätig werden muss (s. auch Rz. 671). Wegen der zur Bejahung des Vorsatzes notwendigen Kenntnis vom drohenden Erfolgseintritt bei eigenem Untätigbleiben sind auch die steuerrechtlichen Pflichten nicht ethisch indifferent. Einzuräumen ist allerdings, dass insb. in Bezug auf die Hinterziehung von Lohnsteuer (s. das Beispiel in Rz. 663) die Differenzierung zwischen Unkenntnis der Steuerpflicht (§ 16 StGB) und Unkenntnis der Erklärungspflicht (§ 17 StGB) recht spitzfindig ist.
Beispiel 8
(s. auch Rz. 670): Unternehmer U kaufte ein Fabrikgrundstück und machte gegenüber dem FA daraus Vorsteuern i.H.v. 1,5 Mio. EUR geltend. Nachdem die Vorsteuer-Erstattung geleistet wurde, trat der Verkäufer des Grundstücks vom Vertrag zurück. U stand jedoch weiterhin mit dem Verkäufer in Verhandlungen; von der Abgabe einer berichtigten Umsatzsteuererklärung (§ 17 UStG) sah U ab, obwohl er als erfahrener Kaufmann wusste, dass die Vorsteuer zu berichtigen ist, wenn ein Vertrag nachträglich gelöst wird.
Der BGH führt aus: "Die Strafkammer hat die naheliegende Möglichkeit unerörtert gelassen, dass der Angeklagte sich der Erforderlichkeit einer Unterrichtung des FA von der Rücktrittserklärung bewusst gewesen ist, er aber gehofft hat, seine weiteren Verhandlungen würden Erfolg haben und das FA von einer Rückforderung absehen würde. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat vorsorglich darauf hin, dass der Irrtum über eine steuerrechtliche Berichtigungspflicht, der nicht die Garantenstellung betrifft, unter § 17 StGB fällt [...]".
Rz. 669
Ebenso ist für die irrtümliche Annahme der Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens zu entscheiden (s. Rz. 304 ff.). Auch hier ist die Kenntnis der Umstände ausreichend, die die Zumutbarkeit begründen, u...