Ingo Heuel, Dr. Brigitte Hilgers-Klautzsch
Rz. 1088
Mit der Einführung des § 370 Abs. 3 AO zum 1.1.1977 wurden zum ersten Mal besonders schwere Fälle unter eine erhöhte Strafandrohung gestellt. Dies entspricht den Strafschärfungsmöglichkeiten beim Betrug (§ 263 Abs. 3 StGB) und beim Subventionsbetrug (§ 264 Abs. 2 StGB). Der erhöhte Strafrahmen sieht ausschließlich Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren vor. Mit der Einführung des § 370 Abs. 3 AO verfolgte der Gesetzgeber das Ziel, zum Ausdruck zu bringen, dass die Steuerhinterziehung "hinsichtlich ihrer Gefährlichkeit und ihrer Strafwürdigkeit nicht geringer zu bewerten ist als der Betrug". Durch die Strafrahmenverschiebung des § 370 Abs. 3 AO kann nicht wahlweise auf Geldstrafe erkannt werden. Durch die Mindeststrafe von sechs Monaten ist auch die Verhängung einer Ersatz-Geldstrafe anstelle der Freiheitsstrafe ausgeschlossen (§ 47 Abs. 2 Satz 1 StGB). Die Vollstreckung der Freiheitsstrafe kann ggf. zur Bewährung ausgesetzt werden (§ 56 StGB, s. Rz. 1007).
Es besteht jedoch die Möglichkeit, gem. § 41 StGB zusätzlich zur Freiheitsstrafe auf Geldstrafe zu erkennen, wenn der Täter sich durch die Tat bereichert oder zu bereichern versucht hat, und dies auch unter Berücksichtigung seiner persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse angebracht ist (s. Rz. 1016).
Rz. 1089
Bei den in § 370 Abs. 3 Nr. 1–6 AO genannten Erschwerungsgründen handelt es sich nicht um Tatbestandsmerkmale, sondern um Strafzumessungstatsachen. Die vom Gesetz verwendete sog. Regelbeispielstechnik kombiniert das Prinzip der unbenannten Strafschärfung mit der tatbestandlichen Bestimmtheit von Qualifizierungen. Dies bedeutet, dass die Verwirklichung eines Regelbeispiels nur ein Indiz für das Vorliegen eines besonders schweren Falls darstellt, das entkräftet werden kann. So kann die Indizwirkung des verwirklichten Regelbeispiels durch sonstige Milderungsgründe beseitigt werden, aber andererseits auch durch Strafschärfungsgründe verstärkt werden. Die Katalogaufzählung ist weder bindend noch abschließend. Es ist vielmehr Aufgabe des Gerichts, im Einzelfall darüber zu befinden, ob ein besonders schwerer Fall vorliegt.
Ein Fall ist dann besonders schwer, wenn er sich bei einer im Rahmen einer Gesamtwürdigung vorgenommenen Abwägung aller Zumessungstatsachen (s. Rz. 1029 ff.) nach dem Gewicht von Unrecht und Schuld vom Durchschnitt der erfahrungsgemäß vorkommenden Fälle so weit abhebt, dass die Anwendung des Ausnahmestrafrahmens geboten ist. Die Regelbeispiele geben dem Richter einen Hinweis auf den Grad des Unrechts und der Schuld und somit einen Anhalt für die im Rahmen der Gesamtwürdigung vorzunehmende Bewertung der Tat. Trotz der Verwirklichung der Merkmale eines Regelbeispiels kann daher ein besonders schwerer Fall zu verneinen sein. Kommt der Tatrichter nach umfassender Abwägung aller Umstände trotz der Indizwirkung des Regelbeispiels zu dem Ergebnis, dass kein besonders schwerer Fall vorliegt, muss diese Wertung durch das Revisionsgericht akzeptiert werden, auch wenn es der Meinung ist, dass ein besonders schwerer Fall naheliegt. Dem Tatrichter steht es innerhalb des ihm gesetzlich eingeräumten Spielraums frei, wegen überwiegender Strafmilderungsgründe nicht den erhöhten Strafrahmen des § 370 Abs. 3 AO anzuwenden. Hierbei darf er nach der Rspr. des BGH die Umstände, die das Regelbeispiel begründen, jedoch nicht unberücksichtigt lassen; diese müssen vielmehr zunächst im Vordergrund der Abwägung stehen.
Die Gesamtwürdigung kann indes auch ergeben, dass ein besonders schwerer Fall vorliegt, obwohl ein Regelbeispiel nicht erfüllt ist (sog. unbenannter besonders schwerer Fall). So kann z.B. das Einreichen unechter Belege zur zeitgerechten Erreichung eines Vorsteuerabzugs dem Fall des § 370 Abs. 3 Nr. 4 AO gleichgestellt werden. Nimmt der Tatrichter im Einzelfall trotz Nichtvorliegens eines Regelbeispiels einen vergleichbaren besonders schweren Fall an, ist zu beachten, dass die Nichterwähnung einer bestimmten Begehungsweise in einem Regelbeispiel eine negative Indizwirkung entfaltet.
Rz. 1090
Selbst wenn gem. § 370 Abs. 3 AO auf eine Freiheitsstrafe von einem Jahr oder mehr erkannt wird, bleibt ein besonders schwerer Fall der Steuerhinterziehung ein "Vergehen", denn der Deliktstypus Verbrechen/Vergehen bestimmt sich nach dem Regelstrafrahmen (§ 12 Abs. 3 StGB). Dies bedeutet, dass auch bei Vorliegen eines Regelbeispiels eine Einstellung nach §§ 153, 153a StPO möglich bleibt. Hinsichtlich der Merkmale der Nr. 1–5 des § 370 Abs. 3 AO muss Vorsatz gegeben sein. Dieser muss zum Zeitpunkt der Vornahme der Tathandlung, regelmäßig also der Abgabe der unrichtigen Steuererklärung oder des Verstreichenlassens des Abgabetermins für die Erklärung, vorhanden sein.
Rz. 1091
Der Anwendungsbereich des verschärften Strafrahmens des § 370 Abs. 3 AO gilt für sämtliche Begehungsformen des § 370 AO. Bezüglich § 374 AO ist zu beachten, dass der Str...