Ingo Heuel, Dr. Brigitte Hilgers-Klautzsch
Rz. 879
Im Fall der Scheinkonkurrenz verdrängt einer der verwirklichten Straftatbestände einen gleichfalls verwirklichten anderen Straftatbestand. Ihr Kennzeichen ist, dass der Unrechtsgehalt des nur scheinbar anwendbaren Straftatbestands durch die Verurteilung wegen des verdrängenden Tatbestands bereits erfasst wird (s. Rz. 861). Wegen dieses gemeinsamen Nenners ist eine genaue Abgrenzung der einzelnen Erscheinungsformen der Scheinkonkurrenz entbehrlich. Im Tenor des Urteils werden die verdrängten Delikte nicht genannt, allerdings soll die Mindeststrafe subsidiärer oder konsumierter Tatbestände nicht unterschritten werden dürfen. Ebenso dürfen oder müssen Nebenstrafen und Nebenfolgen angeordnet werden und die Erfüllung der als subsidiär oder konsumiert verdrängten Tatbestände wird als Strafschärfungsgrund behandelt. Bei der Spezialität ist anerkannt, dass das verdrängte Gesetz in jeder Hinsicht, also auch bei der Strafzumessung, unanwendbar ist.
1. Spezialität und Sonderregelung
Rz. 880
Im Fall der Spezialität regelt ein Strafgesetz einen von einem anderen Gesetz allgemeiner erfassten Sachverhalt durch Hinzutreten weiterer Merkmale in besonderer Weise. So kann man etwa § 373 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 AO in Bezug auf das Erfordernis, dass Einfuhr- oder Ausfuhrabgaben hinterzogen werden müssen, im Vergleich zum allgemeiner gefassten Hinterziehungserfolg des § 370 Abs. 1 und 4 AO als spezieller begreifen. Durch das hinzukommende Erfordernis der Gewerbsmäßigkeit wird der Grundtatbestand des § 370 Abs. 1 AO zudem qualifiziert (s. § 373 Rz. 10). Andererseits enthält § 373 AO weder eine eigene Umschreibung der Tathandlung noch des Taterfolgs, sondern verweist ("hinterzieht") auf § 370 AO. Ob man deshalb davon ausgeht, dass § 373 AO ohnehin mit § 370 AO zusammen zu lesen und wegen des Grundtatbestands in qualifizierter Form nach §§ 370, 373 AO zu verurteilen ist, oder aber meint, dass § 373 AO den Grundtatbestand des § 370 AO gesetzeskonkurrierend verdrängt, ist gleichgültig (s. § 373 Rz. 10). Einigkeit besteht jedenfalls, dass die Verurteilung wegen Schmuggels zu erfolgen hat. Tateinheit kann hingegen in Bezug auf die verbotswidrige Einfuhr desselben Gegenstands zwischen Bannbruch (§ 372 AO) und § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO bestehen, da der Bannbruch das verbotswidrige Verbringen, nicht die Herbeiführung eines Hinterziehungserfolgs mit Strafe belegt.
Rz. 881
§ 370 AO kann auch im Vergleich zum Betrug nach § 263 StGB z.T. als der speziellere Tatbestand angesehen werden, da diese Norm den Eintritt eines jeglichen Vermögensschadens zur Tatbestandserfüllung ausreichen lässt, während § 370 AO einen Nachteil der öffentlichen Hand speziell in Bezug auf Steuern voraussetzt (s. Rz. 432). Allerdings ist nicht notwendig jeder Verkürzungserfolg nach § 370 Abs. 1 und 4 AO bereits als Vermögensschaden zu begreifen (s. Rz. 57 ff.); im Gegensatz zu § 263 StGB setzt § 370 AO auch keinen Irrtum der FinB (s. Rz. 585 ff.) und keine Bereicherungsabsicht des Täters voraus. Es ist also nicht zutreffend, dass immer dann, wenn § 370 AO erfüllt ist, zwangsläufig auch § 263 StGB gegeben ist.
Rz. 882
Trotzdem besteht Einigkeit, dass immer dann, wenn es um durch § 370 AO tatbestandlich erfasste Steuerverkürzungen oder -vorteile geht, § 263 StGB keine Anwendung findet (s. Rz. 432); das Gleiche gilt für § 263a StGB. Zur Abgrenzung zu § 264 StGB s. Rz. 424 ff. Zur Anwendbarkeit des § 263 StGB auf die Hinterziehung von Kirchensteuer s. aber Rz. 381. Der BGH formuliert:
"Beim Tatbestand des § 370 AO handelt es sich um eine abschließende Sonderregelung, die gemäß ihrem gesetzgeberischen Zweck den allgemeinen Betrugstatbestand verdrängt und allenfalls dann eine tateinheitliche Begehung mit Betrug zuläßt, wenn der Täter mit Mitteln der Täuschung außer der Verkürzung von Steuereinnahmen oder der Erlangung ungerechtfertigter Steuervorteile noch weitere Vorteile erstrebt (vgl. RGSt 63, 139, 142; BGH v. 22.4.1975 – 1 StR 592/74, MDR 1975, 947; BGHR AO § 370 Abs. 1 Konkurrenzen 2; vgl. auch Lackner in LK 10. Aufl. Rdn. 332; Dreher/Tröndle 44. Aufl. Rdn. 48 jeweils zu § 263 StGB m.w.N.)."