Rz. 555

[Autor/Stand] Zum Grundgedanken und zur Auslegung auch dieses Ausschlussgrundes kann auf die Ausführungen in Rz. 417 ff. verwiesen werden. Hat die FinB bereits das Verfahren wegen einer Steuerstraf- oder -bußgeldtat eingeleitet und bekannt gegeben, so erscheint die Gewährung von Straffreiheit wegen Offenbarung einer unbekannten Steuerquelle nicht mehr geboten. Dass es auf die Freiwilligkeit als Auslegungskriterium nicht ankommt, wurde bereits ausgeführt (s. Rz. 419 ff.). Gegenüber § 371 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Buchst. c AO ist bei § 371 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b AO das subjektive Element stärker ausgeprägt dadurch, dass die Verfahrenseinleitung "dem an der Tat Beteiligten oder seinem Vertreter [...] bekannt gegeben worden ist".

 

Rz. 556

[Autor/Stand] Nicht zuletzt wegen dieser "Subjektivität" beansprucht der Bestimmtheitsgrundsatz als Ausprägung des verfassungsrechtlich verbürgten Rechtssicherheitsgedankens (sedes materiae ist der Rechtsstaatsgrundsatz des Art. 20 Abs. 3 GG[3]) im Rahmen des § 371 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b AO besondere Geltung.

 

Rz. 557

[Autor/Stand] Insoweit gelten die gleichen Grundsätze, die die Rspr. zu der Vorschrift des § 78c StGB entwickelt hat, die in Abs. 1 Nr. 1 und 3 u.a. die Bekanntgabe der Einleitung des Ermittlungsverfahrens als verjährungsunterbrechende Maßnahme nennt[5] (näher dazu § 376 Rz. 150 f., 163). Die Rspr. stellt diesbezüglich wegen der einschneidenden Folgen der Verjährung hohe Anforderungen an die Bestimmtheit der verjährungsunterbrechenden Maßnahmen, insb. im Hinblick auf die persönliche und sachliche Reichweite der Unterbrechungshandlung (wegen der Einzelheiten vgl. § 376 Rz. 136 ff. sowie nachst. Rz. 582 ff., 600 ff.).

 

Rz. 558

[Autor/Stand] Was für die Bekanntgabe der Einleitung des Ermittlungsverfahrens bei den verjährungsunterbrechenden Vorschriften zu beachten ist, muss aufgrund der höheren Einwirkungsintensität der Selbstanzeigevorschrift bzw. der Ausschlusstatbestände erst recht für die Auslegung des § 371 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b AO gelten[7]. Nach der ständigen Rspr. des BVerfG sind die Bestimmtheitsanforderungen umso strenger, je höher die Einwirkungsintensität ist[8].

 

Rz. 559

[Autor/Stand] Vergleicht man die Rechtsfolgen der Verjährung mit den Rechtsfolgen des § 371 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b AO, so ergibt sich Folgendes: Die Verjährung hat nach heute überwiegender Auffassung Doppelcharakter, d.h. sie stellt ein Verfolgungshindernis mit zum Teil materiellen Wirkungen dar[10]. Werden ihre Voraussetzungen vom Gericht verneint, so hat dies eine Verurteilung des Betroffenen zur Folge; ist die Tat verjährt, so führt dies zur endgültigen Einstellung des Verfahrens[11]. Die Selbstanzeige stellt nach überwiegender Auffassung einen persönlichen Strafaufhebungsgrund dar (s. Nachw. in Rz. 52). Die Frage, ob die Voraussetzungen der Selbstanzeige vorliegen bzw. ob die eines der Ausschlussgründe, speziell die des § 371 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b AO gegeben sind, berührt daher die Frage der Strafbarkeit unmittelbar. Liegen die Voraussetzungen der Selbstanzeige vor, dann ist das Verfahren gem. § 170 Abs. 2 StPO aus materiell-rechtlichen Gründen einzustellen bzw. der Angeklagte freizusprechen[12] (vgl. Rz. 796 ff.). Da die Selbstanzeige mithin unmittelbar die Strafbarkeit berührt, gelten auch Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB unmittelbar (s. Rz. 55). Erst recht ist der Grundsatz in dubio pro reo hier zu beachten (s. Rz. 56). Darf bei der Verjährung, einem Rechtsinstitut mit vorherrschend prozessualem Charakter, die Entscheidung schon nicht von Zufälligkeiten abhängen, so ist dies umso mehr für die Selbstanzeige zu fordern, bei der die Strafbarkeit unmittelbar berührt ist. Stuft man die Einwirkungsintensität des § 371 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b AO – wie die der anderen Ausschlussgründe – ein, so ist festzustellen, dass diese Intensität aufgrund des Umstandes, dass die Strafbarkeit unmittelbar betroffen ist, größer ist als bei den schwerpunktmäßig verfahrensrechtlichen Folgen der Verjährungsvorschriften.

 

Rz. 560

[Autor/Stand] Bezüglich der Auslegung des § 371 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b AO ist auch insoweit – kumulativ – die fiskalische Zielsetzung des Gesetzgebers zu beachten (s. dazu bereits Rz. 417), d.h., der Ausschlussgrund des § 371 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b AO ist auch aus diesem Grund eng auszulegen[14].

Der Grundsatz der engen Auslegung aufgrund der fiskalischen Zielsetzung des Gesetzgebers ergänzt also das Prinzip der engen (möglichst konkreten) Auslegung der Ausschlussgründe aufgrund des Rechtsstaatsgrundsatzes. Zu den Konsequenzen der Auslegung im Einzelnen vgl. Rz. 561 ff.

[Autor/Stand] Autor: Schauf, Stand: 01.07.2021
[Autor/Stand] Autor: Schauf, Stand: 01.07.2021
[3] Vgl. BVerfG v. 8.8.1979 – 2 BvL 8/77, BVerfGE 49, 89 (133); BVerfG v. 24.11.1981 – 2 BvL 4/80, BVerfGE 59, 104 (114) = ZIP 1982, 342.
[Autor/Stand] Autor: Schauf, Stand: 01.07.2021
[5] Vgl. nur BGH v. 23.4.1953 – 4 StR 743/52, BGHSt 4, 135 (137).
[Autor/Stand] Autor: Schauf, Stand...

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