Rz. 804
Fraglich ist, ob die Begehung einer Steuerhinterziehung während der Bewährungszeit trotz strafbefreiender Selbstanzeige den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung gem. § 56f Abs. 1 Nr. 1 StGB rechtfertigen kann.
Beispiel 1
Der Stpfl. S wird wegen Steuerhinterziehung zu einer einjährigen Freiheitsstrafe verurteilt, die zur Bewährung ausgesetzt wird. In dem Zeitraum zwischen Rechtskraft des Urteils und vor Ende der Bewährungsfrist begeht er erneut eine Steuerhinterziehung. S erstattet diesbezüglich mit strafbefreiender Wirkung Selbstanzeige. Liegen trotz der Straffreiheit gem. § 371 AO die Voraussetzungen des § 56f Abs. 1 Nr. 1 StGB vor, so dass die Aussetzung zur Bewährung in Bezug auf die bereits abgeurteilte erste Steuerhinterziehung widerrufen werden kann?
Rz. 805
Gemäß § 56f Abs. 1 Nr. 1 StGB kann der Widerruf der Strafaussetzung erfolgen, wenn der Verurteilte in der Bewährungszeit eine Straftat begeht und dadurch zeigt, dass die Erwartung, die der Strafaussetzung zugrunde lag, sich nicht erfüllt hat. Gemäß § 56f Abs. 2 StGB darf im Übrigen keine mildere Möglichkeit bestehen.
Rz. 806
Der Widerruf kann erst nach Rechtskraft des Urteils erfolgen und ist nur durch während der Bewährungszeit begangene Straftaten gerechtfertigt. Eine erneute Steuerhinterziehung, die vor Verurteilung begangen wird, hat damit keinen Einfluss auf die Bewährung, da die Bewährungszeit erst mit Rechtskraft des Urteils beginnt.
Im vorst. Beispielsfall ist die Steuerhinterziehung aber in der Bewährungszeit nach Rechtskraft des Urteils begangen. In zeitlicher Hinsicht ist damit die Voraussetzung des § 56f Abs. 1 Nr. 1 StGB erfüllt.
Rz. 807
Weiter setzt die Vorschrift das Begehen einer Straftat voraus. Die Straftat in diesem Sinne muss nach überwiegender Meinung alle materiellen Voraussetzungen der Strafbarkeit erfüllen. Das bedeutet, dass eine tatbestandsmäßige, rechtswidrige und schuldhafte Tat vorliegen muss und es dürfen keine Strafausschließungsgründe oder Strafaufhebungsgründe – und zu Letzteren zählt die Selbstanzeige – eingreifen.
Rz. 808
Wie Streck/Spatscheck mit überzeugender Begründung ausgeführt haben, folgt dieses Ergebnis aus der historischen Entwicklung und Sinn und Zweck des § 56f Abs. 1 Nr. 1 StGB. Erforderlich ist auch nach der Neuregelung der Vorschrift durch das 1. StrRG, dass das widerrufende Gericht die Überzeugung gewonnen haben muss, dass eine strafbare Handlung als solche zum Zeitpunkt der Widerrufsüberlegungen vorliegt. Diese Beurteilung kann das die Bewährung widerrufende Gericht der ersten Verurteilung selbst treffen, ohne an die Auffassung des zweiten Gerichts gebunden zu sein. Da aber bei einer wirksamen Selbstanzeige eine Strafbarkeit wegen Steuerhinterziehung ausscheidet, ist auch kein Widerrufsgrund i.S.d. § 56f Abs. 1 Nr. 1 StGB gegeben. Allein diese Sichtweise wird auch dem fiskalischen Zweck des § 371 AO gerecht, da bei bestehender Widerrufsmöglichkeit die Anreizfunktion des § 371 AO verloren ginge.
Die im vorst. Beispiel gestellte Frage ist somit zu verneinen.