Rz. 608
Dieser materiell-rechtlich verstandene Tatbegriff ist aber, da § 371 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b AO nicht auf die Einleitung, sondern auf deren Bekanntgabe Bezug nimmt – entsprechend den Grundsätzen zur Sperrwirkung bei der Prüfungsanordnung (s. Rz. 494 ff.) – formal beschränkt, d.h. die Sperrwirkung bemisst sich nicht danach, ob im materiell-rechtlichen Sinne Tateinheit oder Tatmehrheit gegeben ist, sondern nach dem Inhalt der Bekanntgabe und den darin genannten Steuerarten und Steuerabschnitten.
Rz. 609
Im Ergebnis ist also zunächst in Bezug auf jede Tat – verstanden im vorbezeichneten Sinne – zu prüfen, ob die Selbstanzeige ausgeschlossen ist. Führt diese Prüfung zu dem Resultat, dass wenigstens hinsichtlich einer der nacherklärten Steuerstraftaten die Einleitung eines Straf- oder Bußgeldverfahrens bekannt gegeben worden ist, ist die Selbstanzeigemöglichkeit bzgl. sämtlicher Taten jener Steuerart ausgeschlossen. Das Vorliegen der Sperrwirkung bestimmt sich demnach nach dem materiell-rechtlichen Tatbegriff, der zeitliche Umfang der Sperrwirkung kann jedoch über den Inhalt der Bekanntgabe hinausreichen.
Rz. 610
Die schematische Begrenzung des Umfangs der Sperrwirkung auf den Inhalt der Bekanntgabe lässt sich mit dem Gesetzeswortlaut nicht mehr vereinbaren. Der Gesetzgeber beabsichtigte eine Ausweitung der Sperrwirkung, was durch die Ersetzung der Formulierung "wegen der Tat" durch die Formulierung "einer der zur Selbstanzeige gebrachten unverjährten Steuerstraftaten" zum Ausdruck gebracht wurde. Diese Intention lässt sich auch der Gesetzesbegründung zum Schwarzgeldbekämpfungsgesetz entnehmen. Darin heißt es, dass die Rechtsfolge Straffreiheit dann nicht mehr eintritt, wenn "bei einer der offenbarten Taten Entdeckung droht. Das ist bereits dann der Fall, wenn dem Täter [...] die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens zu einer der offenbarten Taten bekannt gegeben worden ist". Eine Auslegung, die den Umfang der Sperrwirkung kategorisch auf die jeweilige Tat im materiell-rechtlichen Sinne beschränkt, ist demnach wohl kaum mit dem aktuellen Gesetzeswortlaut vereinbar. Dies gilt umso mehr angesichts der Tatsache, dass der Gesetzgeber im Rahmen des AOÄndG 2015 zwar in den prüfungsbedingten Sperrgründen der Nr. 1 Buchst. a und c des § 371 Abs. 2 Satz 1 AO eine Beschränkung auf den sachlichen und zeitlichen Umfang der Prüfung(sanordnung) eingeführt hat, jedoch nicht in Bezug auf die Bekanntgabe der Einleitung eines Strafverfahrens. Hätte dies der Intention des Gesetzgebers entsprochen, hätte er auch in Nr. 1 Buchst. b eine entsprechende Beschränkung auf den sachlichen und zeitlichen Umfang der Bekanntgabe eingeführt und auch insoweit eine Konkretisierung des Einleitungssatzes der Nr. 1 vorgenommen.