Rz. 240
Bis zur Entscheidung des BGH vom 20.5.2010 wurde die Thematik der Selbstanzeige nach der Selbstanzeige kaum problematisiert. Vielmehr wurden in der Praxis beide Selbstanzeigen regelmäßig als wirksam anerkannt. Die Frage, ob die Tat möglicherweise bereits durch die erste Selbstanzeige entdeckt ist – die sich in gleicher Weise nach der alten Gesetzeslage stellte –, wurde de facto nicht aufgeworfen. Erst im Anschluss an den Beschluss des BGH begann in der Literatur die Auseinandersetzung mit der Frage, welche Auswirkungen eine zweite Selbstanzeige auf die Wirksamkeit beider Selbstanzeigen hat.
Rz. 241
Bei sich überschneidenden Veranlagungszeiträumen birgt die Abgabe einer Selbstanzeige nach einer Selbstanzeige für den Stpfl. zweierlei Risiken. Zum einen könnte die zweite Selbstanzeige zur Unwirksamkeit der ersten Selbstanzeige führen, da deren ursprüngliche Unvollständigkeit offenbar wird. Zum anderen droht auch die Unwirksamkeit der zweiten Selbstanzeige, da die Taten durch die erste Selbstanzeige entdeckt und mithin der Sperrgrund des § 371 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO vorliegen könnte.
Rz. 242
Beispiel 165
Der Stpfl. S verfügt sowohl über ein Konto in Liechtenstein als auch über eines in der Schweiz. Auf beiden Konten erzielte er in Deutschland steuerpflichtige Einkünfte aus Kapitalvermögen, die er in seinen Einkommensteuererklärungen jeweils verschwiegen hatte. Im Jahr 10 gab er eine Selbstanzeige ab, in der er ausschließlich die Liechtensteiner Einkünfte für die Jahre 05–09 nacherklärte. Im Anschluss an die Abgabe der Selbstanzeige wurde gegen S routinemäßig ein Steuerstrafverfahren zur Überprüfung der Wirksamkeit der Selbstanzeige eingeleitet, das nach Zahlung der Steuernachforderung gem. § 170 Abs. 2 StPO wieder eingestellt wurde. Dies wurde S im Jahr 10 bekannt gegeben. Im Jahr 12 beabsichtigt S nunmehr, eine weitere Selbstanzeige für die Schweizer Kapitaleinkünfte abzugeben. Weder verfügt er über weitere ausländische Konten noch hat er in seinen Einkommensteuererklärungen weitere unrichtige bzw. unvollständige Angaben gemacht.
Die erste Selbstanzeige (Liechtenstein) war zum Zeitpunkt ihrer Abgabe objektiv unvollständig. Ursprünglich lag somit tatsächlich eine unwirksame Teilselbstanzeige vor, da der Stpfl. nicht vollumfänglich in die Steuerehrlichkeit zurückkehrte. Die Wirksamkeit der Selbstanzeige wurde jedoch zunächst anerkannt, da die Finanzverwaltung keine Kenntnis von dem zweiten Konto hatte. Umstritten ist indes, welche Auswirkungen das nachträgliche Erkennen der ursprünglichen Unvollständigkeit durch die zweite Selbstanzeige mit sich bringt.
Rz. 243
Das FinMin. NW ist ohne nähere Begründung der Ansicht, dass im Ergebnis beide Selbstanzeigen unwirksam seien:
"Führte eine frühere Selbstanzeige zur Straffreiheit und wird eine neue Selbstanzeige für denselben Veranlagungszeitraum und für dieselbe Steuerart eingereicht, so führt diese erneute Anzeige nicht zur Straffreiheit. Im Gegenteil ist auch die frühere (offensichtlich unvollständige) Selbstanzeige als nicht wirksam anzusehen."
Rz. 244
Ein Aberkennen der strafbefreienden Wirkung der zweiten Selbstanzeige im Hinblick auf deren vermeintliche Unvollständigkeit verkennt jedoch, dass der Stpfl. durch die zweite Selbstanzeige – wie vom Gesetzgeber gefordert – die unrichtigen Angaben vollständig berichtigt. Aus diesem Grund sollten rein vorsorglich in der zweiten Selbstanzeige die bereits in der ersten Selbstanzeige offenbarten Unrichtigkeiten ebenfalls enthalten sein. Ist dies der Fall, ist die zweite Selbstanzeige vollständig, so dass deren Wirksamkeit jedenfalls nicht wegen Unvollständigkeit nach § 371 Abs. 1 AO infrage gestellt werden kann. Das FinMin. NW geht hingegen offensichtlich davon aus, dass der Stpfl. für alle unverjährten Taten einer Steuerart nur eine Möglichkeit zur Abgabe einer Selbstanzeige hat. Ein solch enges Verständnis lässt sich jedoch weder dem Beschluss des BGH vom 20.5.2010 noch den Gesetzesmaterialien zur Neufassung des § 371 AO durch das Schwarzgeldbekämpfungsgesetz entnehmen. Im Übrigen würde es dem Fiskalinteresse zuwiderlaufen, da kein Stpfl. die weiterhin verborgenen Steuerquellen freiwillig offenbaren wird, wenn ihm diesbezüglich eine Strafe droht.
Rz. 245
Demnach kann nach § 371 Abs. 1 AO allenfalls die erste Selbstanzeige wegen Unvollständigkeit unwirksam sein, nicht aber auch die zweite Selbstanzeige. Bei einer isolierten Betrachtung der beiden Selbstanzeigen ist die erste Selbstanzeige als Teilselbstanzeige unwirksam. Bei einer Gesamtschau der beiden Selbstanzeigen wären – sofern zwischen den Abgaben der beiden Nacherklärungen kein Sperrgrund eintrat – hingegen beide Selbstanzeigen wirksam. Die zweite vervollständigende Selbstanzeige würde so zu einer Heilung der ursprünglich unvollständigen ersten Selbstanzeige führen. Durch die freiwillige Vervollständigung der ersten Selbstanzeige durch die zweite, würde ...