Rz. 26
§ 375a AO wurde mit dem Zweiten Corona-Steuerhilfegesetz eingeführt und galt für alle am 1.7.2020 noch nicht verjährten Steueransprüche (Art. 97 § 34 EGAO), bezieht sich also auch auf Steuerhinterziehungen, die vor dem 1.7.2020 bereits beendet waren; auf steuerlich zu diesem Zeitpunkt bereits verjährte Ansprüche bezog sich § 375a AO nicht. Die Anwendung des § 375a AO endete mit der Einführung des § 73e Abs. 1 Satz 2 StGB; ab dessen Einführung verdrängt § 73e StGB den § 375a AO.
Rz. 27
Der zeitliche Anwendungsrahmen des § 73e Abs. 1 Satz 2 StGB wird von Art. 316j EGStGB geregelt. Für Taten, die vor dem 29.12.2020 begangen wurden, enthält Art. 316j EGStGB eine Überleitungsvorschrift. Laut dieser sollen Steuern aus besonders schweren Steuerhinterziehungen i.S.d. § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO – also solche mit einem Steuerschaden über 50.000 EUR – in jedem Fall und sonstige Steuern, soweit sie nach dem 1.7.2020 verjährt sind, gem. § 73e Abs. 1 Satz 2 StGB eingezogen werden können; sonstige durch Verjährung erlöschende Ansprüche sollen nur eingezogen werden, wenn der Erlöschensgrund nach dem 29.12.2020 eingetreten ist. Art. 316j EGStGB dehnt im Ergebnis den zeitlichen Anwendungsbereich des § 375a AO aus.
Rz. 28
Die Einziehungsbefugnis hinsichtlich Taterträgen, deren Erlöschensgrund nach dem 29.12.2020 eintreten, ist rechtlich nicht angreifbar.
Rz. 29
Fraglich war hingegen bereits zu § 375a AO und ist es nunmehr mit Blick auf § 73e StGB, ob die Anwendung auf am 1.7.2020 steuerlich noch nicht verjährte Forderungen auf Taten vor Einführung der Norm verfassungskonform ist; gleiches gilt nunmehr für den Stichtag 29.12.2020. Das Rückwirkungsverbot des Art. 103 GG soll nicht anzuwenden sein, denn Einziehung sei nach ganz h.M. keine Strafe. Nach den sodann anzuwendenden Regeln der tatbestandlichen Rückanknüpfung sei die Regelung verfassungsrechtlich haltbar. Ob diese Auffassung unter dem Gebot einer konventionsfreundlichen Auslegung innerstaatlichen Rechts auf Dauer Bestand haben wird, bleibt abzuwarten; jedenfalls konventionsrechtlich (Art. 7 Abs. 1 EMRK) können auch strafrechtlich begründete Einziehungen als Strafen zu bewerten sein (vgl. auch § 399 Rz. 57 ff.).
Rz. 30
Soweit die Einziehung (steuerlich) unverjährte Forderungen aus Taten erfassen sollte, die am 1.7.2020 bzw. 30.12.2020 bereits strafrechtlich verfolgungsverjährt waren, hatte der BGH an der Verfassungsmäßigkeit der zur selbständigen Einziehung (§ 76a StGB) ergangenen Anwendungsregel (Art. 316h EGStGB) erhebliche verfassungsrechtliche Zweifel vorgebracht; insoweit liegt nach Auffassung des BGH eine verfassungsrechtlich unzulässige echte Rückwirkung vor, da der Sachverhalt bei Erlass des Gesetzes bereits abgeschlossen war. Das BVerfG bestätigt die auch vom BGH vorgenommene rechtliche Einordnung der Einziehung nach neuem Recht als Maßnahme (§ 11 Abs. 1 Nr. 8 StGB) nicht strafender, sondern kondiktionsähnlicher Natur, welche nicht dem Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG unterliegt. Anders als der BGH hält das BVerfG hier aber eine Rückbewirkung von Rechtsfolgen (sog. "echte" Rückwirkung) aufgrund überragender Belange des Gemeinwohls für zulässig:
"Die Entziehung [...] strafrechtswidrig erlangter Werte soll die Gerechtigkeit und Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung erweisen und so die Rechtstreue der Bevölkerung stärken.""Dieses Ziel ist überragend wichtig."
Rz. 31
Diese Zweifel stellen sich verstärkt, soweit Art. 316j EGStGB anordnet, dass Steuern aus besonders schweren Steuerhinterziehungen i.S.d. § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO – also solche mit einem Steuerschaden über 50.000 EUR – in jeden Fall und damit unabhängig und über den Anwendungsbereich des § 375a AO hinaus, von einer vor dem 1.7.2020 eingetretenen straf- und steuerrechtlichen Verjährung einzuziehen sind. Art. 316j EGStGB
"greift nachträglich ändernd in vor der Verkündung des Gesetzes abgeschlossene Tatbestände ein, soweit er die Anordnung der Einziehung von Taterträgen aus Alttaten auch dann ermöglicht, wenn nach früher geltendem Recht eine Verfallsanordnung wegen Verfolgungsverjährung [und Veranlagungsverjährung] nicht mehr hätte ergehen dürfen. Die Vorschrift erklärt eine bereits eingetretene Verjährung für rechtlich unbeachtlich und regelt damit einen in der Vergangenheit liegenden Sachverhalt rückwirkend neu."
Der Gesetzgeber hat diese Zweifel gesehen, aber gemeint, dass eine echte Rückwirkung bei besonders schweren Hinterziehungen großen Ausmaßes als Fall der schweren Schädigung des Gemeinwesens verfassungsrechtlich ausnahmsweise sowohl beim Täter wie beim Dritten (§ 73b StGB) zulässig sei. Daran kann man erhebliche Zweifel haben. Ob diese Zweifel allerdings beim BVerfG durchdringen, erscheint angesichts der oben (Rz. 30) dargestellten Rechtsprechung fraglich.