Rz. 172
Die Vorschrift gelangt vor allem deshalb zur Anwendung, weil in Deutschland (noch) kein Unternehmensstrafrecht existiert. Diesbezüglich wurden immer wieder Gesetzesentwürfe z.B. für ein Verbandstrafgesetzbuch (VerbStrG-E) oder ein Verbandssanktionsgesetz (VerSanG-E) vorgelegt.
Rz. 173
Seit April 2014 existiert zudem ein Gesetzgebungsvorschlag des Bundesverbands der Unternehmensjuristen e.V. (BUJ), der dagegen eine Änderung der §§ 30, 130 OWiG vorschlägt. Vorgeschlagen wurde nach diesem Konzept bspw. in § 30 Abs. 7 OWiG-E ein gesetzlicher Milderungsgrund, sofern es trotz entsprechender Compliance-Maßnahmen zu Fehlverhalten gekommen ist oder die Unternehmensleitung als Reaktion auf eine unternehmensbezogene Zuwiderhandlung (weitere) geeignete Maßnahmen iS einer "Selbstreinigung", wie sie aus dem Vergaberecht bereits bekannt sind, ergreift und auf Verlangen darlegt. Daneben wurde in § 130 Abs. 1 OWiG-E zum ersten Mal der Inhalt der Aufsichts- und Organisationspflichten im Unternehmen gesetzlich konkretisiert. Die dabei genannten fünf Grundelemente eines effektiven Compliance-Systems sollen aber nicht als zwingend abschließender Maßnahmen-Katalog zu verstehen sein. Kurz zuvor wurde allerdings im Zuge der 8. GWB-Novelle vom 30.6.2013 über den Verweis aus § 130 Abs. 3 OWiG auf § 30 Abs. 2 Satz 3 OWiG das angedrohte Bußgeld in Höhe von 1 Mio. EUR auf 10 Mio. EUR erhöht, wenn die Pflichtverletzung mit Strafe bedroht ist (zur Bemessung der Geldbuße s. Rz. 27 ff.). Eine Berücksichtigung von Compliance-Maßnahmen bei der Bemessung der Geldbuße ist bei § 130 OWiG (bislang) nicht ausdrücklich vorgesehen (s. hierzu Rz. 197, 405 ff.). Die Beschlussempfehlung samt Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie bzgl. des Entwurfs der 8. GWB-Novelle betont, dass insofern eine Einzelfallprüfung geboten ist. In dem vorgenannten Gesetzesentwurf zu § 130 OWiG werden erstmalig die bislang nur vage formulierten Aufsichts- und Organisationspflichten im Unternehmen konkretisiert. Dies vor dem Hintergrund, dass auf die Besonderheiten des einzelnen Unternehmens Rücksicht genommen werden muss und es sich bei den genannten Kriterien nur um Anhaltspunkte, nicht aber um einen enumerativen Anforderungskatalog handelt. Eine solche Konkretisierung der ohnehin schwierig zu umreißenden Pflichten des Betriebsinhabers ist aus Gründen der Rechtssicherheit und zur Schaffung einer einheitlichen Regelungspraxis zu begrüßen.
Rz. 174
Am 9.6.2017 ist die 9. GWB-Novelle in Kraft getreten. Hierdurch soll u.a. sichergestellt werden, dass betroffene Unternehmen sich nicht durch Umstrukturierungen der Bußgeldhaftung entziehen können. Diese Intension verfolgt auch das zum 1.7.2017 in Kraft getretene Gesetz zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung.
Rz. 175
Bis zur Schaffung des OWiG 1968 existierte keine allgemeine Vorschrift über die Verantwortlichkeit des Geschäftsherrn und der ihm gleichgestellten Personen für Zuwiderhandlungen, die in seinem Betrieb oder Unternehmen begangen wurden. Die Regelung des § 130 OWiG wurde geschaffen, um die Verantwortlichkeit des Geschäftsherrn im Falle einer Verletzung seiner Aufsichtspflicht künftig für alle in Betracht kommenden Fälle einheitlich und abschließend zu regeln. § 130 OWiG regelt daher einheitlich für alle Ordnungswidrigkeiten und abschließend die bußgeldrechtliche Verantwortlichkeit des Geschäftsherrn und sonstiger aufsichtspflichtiger Personen für den Fall einer Verletzung der Aufsichtspflicht. Durch die Norm soll der Begehung von mit Bußgeld oder Strafe bedrohten Zuwiderhandlungen in einem Betrieb entgegengewirkt werden, soweit hierdurch gegen betriebsbezogene Pflichten verstoßen wird, der Betriebsinhaber aber als Täter ausscheidet, da er einen anderen für sich handeln ließ. Zweck des § 130 OWiG ist daher, abzusichern, dass der Verletzung betriebsbezogener Pflichten durch geeignete Aufsichtsmaßnahmen vorgebeugt wird.