Rz. 80
Der im OWiG verwendete Begriff der "Vorwerfbarkeit" entspricht der im Bereich des Strafrechts gebrauchten Terminologie der "Schuld". Im OWiG wird der Ausdruck "Schuld" vermieden, weil mit diesem das Element der "sozialethischen Missbilligung" verbunden ist, das im Ordnungswidrigkeitenrecht fehlt. Vorwerfbares Handeln ist regelmäßig gegeben, wenn der Täter vorsätzlich oder fahrlässig (s. dazu Rz. 52 ff.) einen Bußgeldtatbestand verwirklicht. Die Vorwerfbarkeit entfällt bei Fehlen der Verantwortlichkeit des Täters (§ 12 OWiG) oder Vorliegen eines unvermeidbaren Verbotsirrtums (§ 11 Abs. 2 OWiG):
Rz. 81
Nicht vorwerfbar handelt, wer bei Begehung der Handlung noch nicht 14 Jahre alt ist. Für die Vorwerfbarkeit Jugendlicher (14–17 Jahre) gilt § 3 JGG. Auch eine Unzurechnungsfähigkeit aufgrund geistiger oder seelischer Störung kann die Vorwerfbarkeit ausschließen. Heranwachsende (§ 1 Abs. 2 JGG) werden im Ordnungswidrigkeitenrecht dagegen ohne die durch §§ 105, 106 JGG mögliche Differenzierung als Erwachsene behandelt.
Rz. 82
Der Verbotsirrtum ist entsprechend § 17 StGB in § 11 Abs. 2 OWiG geregelt. In bewusster Abkehr von der strafrechtlichen Terminologie wird in § 11 Abs. 2 OWiG nicht vom fehlenden "Unrechtsbewusstsein" gesprochen, sondern von dem Bewusstsein, etwas "Unerlaubtes" zu tun. Dadurch soll auch terminologisch dem Umstand Rechnung getragen werden, dass die Ge- und Verbote des OWiG auf Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten beruhen und kein ethisches Unwerturteil aussprechen. Im Gegensatz zum Tatbestandsirrtum (s. dazu Rz. 53) bezieht sich der Verbotsirrtum nicht auf die Tatumstände, sondern auf die Rechtswidrigkeit der Tat. Entsprechend § 17 StGB lässt der Verbotsirrtum den Vorsatz unberührt, kann jedoch die Vorwerfbarkeit entfallen lassen. Einer Fehlvorstellung i.S.d. § 11 Abs. 2 OWiG unterliegt derjenige, der in Unkenntnis des Bestehens der Rechtsvorschrift oder ihrer Anwendbarkeit handelt. Die Vorschrift gilt in gleicher Weise für den Täter, der sich irrig die Rechtmäßigkeit seines Handelns vorgestellt hat, als auch für den, der überhaupt nicht nachgedacht hat.
Rz. 83
Die Vorwerfbarkeit entfällt, wenn der Irrtum des Täters nicht vermeidbar war. Dieser konnte den Irrtum vermeiden, wenn er sich nicht im Rahmen des Möglichen und Zumutbaren über die Rechtslage erkundigt hat. Eine besondere Anspannung des Gewissens kann hier jedoch nicht verlangt werden, da die Gebote des Ordnungswidrigkeitenrechts den Bereich des Gewissens vielfach nicht betreffen. Der Täter – und dabei kommt es namentlich auf seine Persönlichkeit und seinen Lebens- und Berufskreis an – muss jedoch alle vorhandenen Mittel einsetzen, um zur richtigen Erkenntnis zu gelangen; insbesondere bestehen weitgehende Prüfungs- und Erkundigungspflichten. Der vorwerfbare Verbotsirrtum kann bei der Bemessung der Geldbuße mildernd berücksichtigt werden.
Beispiel 7
Dem A war auf seinem Konto ein bestimmter Betrag mit Wertstellung 24.12.2016 gutgeschrieben worden. Davon erfuhr er durch Mitteilung der Bank am 5.1.2017. Er war der Meinung, dass der Betrag erst 2017 versteuert werden müsse, da er erst am 5.1.2017 von der Verfügbarkeit erfahren habe.
Es liegt ein Tatbestandsirrtum vor, der zum Ausschluss des Vorsatzes führt. A verkannte den Inhalt des Begriffs "zugeflossen" i.S.d. § 11 EStG, weil er annahm, dieser sei im Sinne einer Verfügbarkeit zu verstehen. Ein Verbotsirrtum läge vor, wenn A den Begriff des Zuflusses zutreffend erfasst gehabt hätte, aber der Auffassung gewesen wäre, es sei erlaubt, den 2016 zugeflossenen Betrag erst 2017 zu versteuern.